Die Kunst streckt die Waffen

Die Istanbul Biennale hat sich aus Respekt vor dem Aufstand gegen die Regierung Erdogan aus dem öffentlichen Raum zurückgezogen. Schade. Ein Rundgang über eine mutlose Ausstellung

Die Welt, 14. September 2013

Wer braucht die Kunst, wenn der Aufstand herrscht? Noch am Vorabend kroch das Tränengas durch die zentrale Einkaufsstraße Istanbuls, die Istiklal Caddesi. Am Nachmittag drauf strömen Passanten durch das Untergeschoss der Galerie SALT, das weit geöffnet ist wie eine Boutique und das der Argentinier Diego Bianchi mit einer chaotischen Rieseninstallation vollgestellt hat. Aus einer Holzplatte ragen die Hände eines Schauspielers, die klatschen. Kinder stehen davor und klatschen zurück, andere klettern über eine Art Zugbrücke in eine Hütte. Niemandem ist richtig klar, was das und er hier soll, vielleicht ist das ja gerade gut, vielleicht auch nicht.

Abends stehen ein paar Gassen weiter die Entscheider der globalen Kunstwelt beim Sektempfang auf der Dachterrasse des Sammlerpaares Eczacibasi im Künstler- und Migrantenbezirk Beyoglu, das seit Jahren Zentrum urbaner Aufwertung und nun auch Standort vieler Galerien ist. Beyoglus Wahrzeichen, der Galataturm, strahlt, als wäre er die Krönung der üppigen Kunstsammlung, die sich über die fünf Stockwerke darunter ergießt, während die Redner den radikalen Umbruch feiern, den die türkische Gesellschaft jetzt erlebt.

In einem Staat, der lieber Panoramen osmanischer Schlachten baut als die Gegenwartskunst zu fördern, sind es Unternehmer wie die Eczacibasis oder die Koç-Familie, denen sich die Etablierung einer lebendigen, kritischen Kunstszene mit verdankt. Seit Jahren ist die Koç Holding Hauptsponsor der Istanbul Biennale – eine der angesehensten der Welt.

Es ist ein Grundwiderspruch politischer Kunst, dass sie oft mit dem Geld jener finanziert ist, deren Wirken sie anklagt. So verfolgt die Berliner Künstlerin Hito Steyerl auf der Biennale in einem Video die Munition, den ihre Freundin als PKK-Kämpferin zum Opfer fiel, auf die Hersteller in Deutschland oder der Türkei zurück – unter ihnen die Koç-Gruppe, die nicht nur Banken, Energiefirmen und Universitäten besitzt, sondern auch Waffenunternehmen.

Der Riss, der gegenwärtig durch die türkische Gesellschaft geht, durchzieht auch die Unternehmerwelt. Zahlreiche Konzernlenker haben sich in den vergangenen Jahren der AKP-Regierung angepasst, etwa um willkürlich vergebene Baulizenzen zu bekommen, mit denen sich ganze Stadtteile in standardisierte Zonen aus Wohnungen, Einkaufszentren und Moscheen verwandeln. Wer sich nicht anpasst, gerät unter Druck – wie Ömer Koç, in dessen Hotels verletzte Demonstranten vor der Polizei Zuflucht fanden und der sich vorwerfen lassen musste, er unterstütze Terroristen.

Was als Protest gegen den Abriss eines Parks begann und zum Tod von sechs Demonstranten führte, ist zur existenziellen Kraftprobe ausgewachsen, in der jede Seite auf die Zukunft wettet. Dabei beeindruckt die Streitfreudigkeit einer Gesellschaft, in der sich am Familienesstisch durchaus demonstrierende Studentinnen und regierungsnahe Unternehmer begegnen können. Ist die deutsche Gesellschaft eine des common sense, in der über Jahrzehnte Allgemeinplätze errungen wurden, beweist sich die türkische als eine des sensus communis, des Gemeinsinns, der Verpflichtung gegenüber dem Anderen und der Zukunft. Mund zu Mund wandern die Nachrichten von Grundstücksenteignungen und Polizeigewalt, und selbst die Aufseherinnen in den Räumen der Biennale nutzen die Anwesenheit der Journalisten, um unter vier Augen von den letzten Ereignissen auf dem Taksim oder drüben auf der asiatischen Seite in Kadiköy zu berichten. Damit eignen sie sich den Ausstellungs- als öffentlichen Debattierraum an, was ganz im Sinne der Arbeitgeber ist.

Es ist ein weiterer Widerspruch politischer Biennalen, dass sie zwei gegensätzliche Öffentlichkeiten ansprechen: das einfliegende internationale Fachpublikum, vor dessen Urteil man bestehen muss; und das lokale (Laien-)Publikum, von dessen Zuspruch die Legitimation solcher Großunternehmungen abhängt. Als sie sich den öffentlichen Raum als Thema vornahm, traf die Istanbul Biennale ins Schwarze. So sehr, dass sie, als im Mai dieser öffentliche Raum erwachte, ins Abseits geriet. Auch Kuratorin Fulya Erdemci war auf dem Taksim im Tränengas. Sie hatte zahlreiche Aktionen im öffentlichen Raum geplant, auch im Gezi-Park. Das traf auf scharfe Kritik von Bürgergruppen, die die Biennale als Teil des Problems sehen, teils wurde Erdemci sogar bedrängt und angezeigt.

"Ich möchte keine Kunstwerke mit der Erlaubnis jener Autoritäten umsetzen, die die Bürger unterdrücken", begründet Erdemci nun ihre Entscheidung, sich von den Plätzen zurück zu ziehen und die Ausstellung auf private Räume zu beschränken – die Ausstellungshäuser SALT und Arter, die der Koç Foundation gehören, eine alte griechische Schule, den Projektraum 5553 in einem brutalistischen Einkaufszentrum und die Lagerhalle Antrepo 3 am Bosporus. Sie ist seit Jahren Hauptort der Biennale, allerdings jetzt frisch verkauft und dürfte bald Einkaufszentrum oder Hotel werden. Die Berliner Künstlerin Ayse Erkmen lässt schon mal eine große Abrisskugel aus Gummi mit einem Kran gegen die Hauswand schlagen.

"Es ist eine politische Geste", rechtfertigt Erdemci den Rückzug in den geschlossenen Raum. Gleichwohl verspielt sie mit dieser Geste Publikum. Warum nicht mehr riskieren und den Polizeischutz einbeziehen? Anstatt Widersprüche zu erproben und Öffentlichkeiten in Reibung zu bringen, wie es Christoph Schlingensief so gut verstand, wird tendenziell wieder den Gläubigen gepredigt. Hervorragend ist die Lösung des freien Eintritts, für die die Laufzeit verkürzt und alle Partys gestrichen wurden. Doch wer sich als Laie in die Räume locken lässt, findet sich vor unsichtbaren Barrieren wieder: Für erklärende Texte muss der Katalog gekauft werden, dessen abstrakte Theoriesprache sich ans Fachpublikum richtet.

Erdemci baut auf zwei ausgezeichnete Vorgänger-Biennalen auf: 2009 hatte das Kuratorenkollektiv WHW mit formalistischen Diskursen gebrochen und in augenzwinkernder Agitatorik Brecht- und Marx-Zitate aus der Mottenkiste geholt. 2011 versuchten Adriano Pedrosa und Jens Hoffmann in einer scharf kuratierten Schau das Formale zu retten. Erdemcis Ausstellung fällt hinter beide Positionen zurück. Die Räume wirken teils kaum kuratiert, vieles steht bloß nebeneinander, oft fehlt ein roter Faden und jedes Spannungsverhältnis.

All das lässt sich durch die Turbulenzen im Vorfeld rechtfertigen. Allerdings wirkt auch die Auswahl der Künstler – unter ihnen viele junge und besonders viele aus der Türkei und Lateinamerika – teils zufällig. Wenig ist zu Ende gedacht, es macht den Eindruck, als habe Erdemci es allen recht machen wollen. Das rahmende Thema "Mom, am I barbarian?", einem Buchtitel der Autorin Lale Müldür entliehen, ist vielleicht doch etwas allgemein: Zu Barbaren zählt Erdemci "die Unterdrückten, den Revolutionär, den Banditen, den Dichter oder den Künstler". Mit einer zupackenderen Moderation hätte diese Biennale womöglich mehr Bandit sein können und weniger Dichter.

Zu den Höhepunkten zählt Halil Altinderes Video mit den Rappern der Gruppe Tahribad-i Isyan. Deren Häuser im Stadtteil Sukulele, wo seit 600 Jahren Roma wohnten, wurden zerstört, um Neubausiedlungen Platz zu machen. In überdrehter Hip-Hop-Ästhetik gibt es Jagden durch die Ruinen, einen Kinnhaken mit einer Baggerschaufel und einen brennenden Polizisten. Kugeln treffen die Rapper in der Brust, die mit klaffenden Wunden weiter texten. Die Arbeit ist nicht in erster Linie deshalb toll, weil sie mit dem Feuer spielt, sondern weil sie drei Ökonomien zusammen bringt: die von Aufwertung und Verdrängung; die von Ehre und Selbstausdruck im Rap; und die der Kunst.

Santiago Sierra und Jorge Galindo lassen in ihrem Video sieben schwarze Staatskarossen in düsterer Feierlichkeit die Madrider Gran Via hinauf paradieren, auf ihren Dächern balancieren sie riesige realistische Ölgemälde der spanischen Regierungschefs seit dem Ende des Franco-Regimes – auf dem Kopf stehend. Dazu ertönt der Sowjetmarsch "Varsoviana Soviética". Die Arbeit testet den öffentlichen Raum wie die Macht oder Ohnmacht von Kunst – und legt die Ästhetisierung der Politik offen. Sierra hat keine Angst, in der Wahl seiner Mittel böse zu sein. Eine Kunst, die hinter der Raffinesse der Macht zurück bleibt, sieht dagegen heute schnell alt aus. So wirken Teile der Istanbul Biennale wie Trauerarbeit um Debatten und Schlachten, die ihre Reibungskraft verloren haben.

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für kunstkritik 2012

Will-Grohmann-Preis
der Akademie der Künste 2018