Die Malerei gibt es nicht

Wir brechen zu einer Zeitreise in den alten Westen auf und in die Berliner Kunstszene von den sechziger Jahren bis heute. Berlin ist keine Insel mehr, sondern viele Inseln, die eher mit Brooklyn oder Stockholm benachbart scheinen als untereinander. Gibt es trotzdem einen Berliner Stil?

Der Tagesspiegel, 17. September 2013

Malerei ist tot! Malerei lebt! Für immer!
Sätze über Malerei ergeben selten Sinn.
Lebt sie denn nicht, die Malerei? Aber ja doch! Aber stirbt sie denn nicht? Na klar, und wie, in jedem guten Bild.

„Painting Forever!“: Das Programm der Art Week mit einem Kampfbegriff zu versehen, der heute so unscharf ist wie die Grenzen zwischen den Gattungen, sorgte unter Berliner Kunstschaffenden für Achselzucken und lange Gesichter. Vielleicht aus den selben Gründen, aus denen er als Marketinggag doch recht smart ist. Denn Malerei steht für das Versprechen, dass man Kunst unmittelbar gegenüber treten kann. Ohne theoretisches Rüstzeug und ohne sich vorher die Recherchen und Referenzen der Künstlerin erklären lassen zu müssen bis die Wahrnehmung ganz eng geworden ist. Mit Malerei lässt sich ein breites Publikum gewinnen. Und Geld machen. So hat sich das angeblich schwer kopierbare Tafelbild in den letzten Jahren zur beliebten Anlageoption neben Gold oder Beton aufgeschwungen.

Das Argument, die Berliner Museen hätten zuletzt zu wenig Malerei gezeigt, mag aus Sicht von Galerien wie Contemporary Fine Arts berechtigt sein, die selbst viele Maler zeigt und gleich zwei von ihnen in der Nationalgalerie unterbringen konnte. Dabei werden im gegenseitigen Ausspielen von Medien nur künstliche Grenzen hochgezogen wie einst im Kalten Krieg, als Karl-Horst Hödicke 1965 in der Schöneberger Galerie Großgörschen 35 seine „Krone des Geschmacks (Kleine Scheibe)“ ausstellte.

Frisch eingemauert, begann sich Anfang der Sechziger die kapitalistische Enklave Westberlin international zu öffnen, und den Anfang machten wie so oft die Künstler: Alte Berliner zogen weg, junge Wehrdienstverweigerer und Abenteurer kamen her, wie Georg Baselitz, dessen Galerist Michael Werner, Markus Lüpertz oder der spätere UdK-Professor Hans-Jürgen Diehl. Galeristen wie René Block oder Michael Cullen mischten den traditionellen Kunsthandel, der von einer Handvoll Galerien wie Bassenge und Rudolf Springer am Leben gehalten wurde, mit Ausstellungen von Richter, Polke oder R. B. Kitaj auf.

Diehl, Lüpertz und Hödicke waren unter den fünfzehn Studenten und Absolventen, die 1964 die erste Selbsthilfegalerie Berlins, wahrscheinlich Deutschlands, eröffneten. Die 125 Mark Miete wurden geteilt, ausgestellt wurde reihum, wochenends lasen Friedericke Mayröcker, Ernst Jandl oder Peter Handke. Großgörschen 35 war das Modell für die zahlreichen Projekträume, die heute die Vielfalt der Berliner Kunstlandschaft sichern.

Die Großgörschener überwanden den Nachkriegsstreit zwischen Figuration und Abstraktion in einem expressiven Neo-Realismus. Im Rückgriff auf die Neue Sachlichkeit brachen sie die Blockaden der Adenauerzeit auf und eroberten sich das eigene Recht auf Geschichte. Wendet sich heute, wer politisch denkt, eher Installation und Video zu, war bei Diehl, Peter Sorge oder Ulrich Baehr die Leinwand der Kampfplatz gegen Militarismus und Konsum. Hödickes oben erwähnte „Kleine Scheibe“, eine Collage auf einer frei stehenden Glasscheibe, spaltete denn auch die Gruppe wie ein antifigurativer Schutzwall. Künftig stellte Hödicke eher bei René Block aus, der Konzeptkunst und Fluxus propagierte (und Malerei).

Wer heute noch die Malerei gegen andere Kunstformen stellt, übergeht fünfzig Jahre Kunstgeschichte. Gerade von Malern hört man wie leid sie es sind in Malereiausstellungen gruppiert zu werden.

Das Problem beim Sprechen über Malerei fängt da an, wo man Malerei so behandelt wie etwas, das es gibt. Man muss sich das so vorstellen, wie wenn Ingenieure sich regelmäßig vor ihren Maschinen treffen und anfangen über Ingenieurskunst zu sprechen. Das macht keinen Sinn. Ingenieure lösen Probleme. Und die unterscheiden sich so sehr wie der eine künstlerische Ansatz vom anderen.

Der „Neue“, bald auch „Kritisch“ genannte Realismus war ein ganz eigenes Berliner Gewächs, gediehen im Ausnahme-Biotop der marktfernen Insellage, wo auch Raum für so abgefahrene Experimente war wie Gernot Bubenicks Visualisierungen von Schaltkreisen und Gebärmuttern – oder für Exzentriker wie Kurt Mühlenhaupt und den als geisteskrank geltenden Surrealisten Friedrich Schröder-Sonnenstern, der sexualisierte Fabelwesen malte und dieses Jahr auf der Venedig-Biennale neu entdeckt wurde. Der Realismus war richtungsweisend, in den Organisationsformen wie stilistisch: Bei den Großgörschenern studierten auch die „Neuen Wilden“ um Salomé und Rainer Fetting, die 1977 mit ihrer „Galerie am Moritzplatz“ das Selbsthilfe-Modell übernahmen.

Bei den Neuen Wilden endet oft das Berliner Kunstgedächtnis der Gegenwart. Erfolgreich überschrieben sie mit ihrer klotzenden Mythenmalerei die Väter. Das Erbe der Kritischen Realisten wird von Eva und Lothar C. Poll verwaltet, in einer Kunststiftung und der 1968 gegründeten Galerie Poll. Dort begeht man das 45jährige Jubiläum mit einer Retrospektive der verstorbenen Maina-Miriam Munsky, deren Werk in den Siebzigern in allen großen Feuilletons besprochen wurde. Ihre kühlen, düsteren Krankenhausszenen mit Titeln wie „Abtreibung ist Männersache“ bilden eine solitäre Position. Die technologische wie gesellschaftliche Gewalt, die in Szenen von Geburt und Abtreibung steckt, schreibt sich bei Munsky ohne Idealisierung oder Dramatisierung nüchtern mit Buntstift und Pinsel auf Papier und Leinwand.

Der Blick auf solche Bilder lohnt alleine schon als Kontrastfolie für die Gegenwart. Verblüffend ist an ihnen im Rückblick der existenzielle Ernst, mit dem um Kunst gerungen wurde – kein Vergleich etwa mit den der Gegenwart entkoppelten Motiven der Leipziger Schule. Zwei wesentliche Dinge schienen damals stabiler als heute: Der Mensch als Kreuzungspunkt von Vernunft und Erkenntnis. Und das Bild als Brennpunkt einer wie auch immer gearteten Wahrheit.

Heute, in crossmedialen, vielperspektivischen Zugängen zu verschiedenen Wirklichkeiten ist man Kreuzungspunkt von allem Möglichen, was sowohl den Status des Einzelbildes ändert wie auch dessen Gestalt. Kerstin Brätsch baut Installationen, in denen die Bilder wie Abzüge energetischer Kraftfelder wirken. In den Environments von Carsten Fock kommentieren und relativieren sich Wand und Bilder gegenseitig. Wolfgang Betke malt auf Aluminiumplatten, denen er mit dem Schwingschleifer Löcher zufügt wie von ausgedrückten Zigaretten. Bei Henry Kleine oder Christopher Sage scheinen sich Elemente und Flächen zu verselbständigen wie eigenartig animierte Gespensterwesen. Das uneigentliche, scheinbar absichtslose Driften ist ein Kennzeichen der interessanteren Gegenwartsmalerei, und am Ende können dann auch wieder kaleidoskopische, an Anthroposophie und Bauhaus erinnernde Farbfelder stehen wie bei Bernd Ribbeck. Bilder, die sich einerseits ernst nehmen, andererseits nicht. Und in denen Referenzen aus der Malereigeschichte gleichwertig neben Alltagsbildern stehen. Die Werke von Jutta Koether oder der in der Deutsche Bank Kunsthalle gezeigten Antje Majewski beharren darauf, dass Maler heute unweigerlich Objekt- und Installationskünstler sind, und mit dieser Brille lässt sich auch viel produktiver über den Gebrauch malerischer Mittel sprechen.

Berlin ist keine Insel mehr, sondern viele Inseln, die teils eher mit Brooklyn oder Stockholm benachbart scheinen als untereinander. Gibt es trotzdem so etwas wie einen Berliner Stil? Oliver Koerner von Gustorf, der das Berliner Kunstgeschehen seit den frühen Achtzigern verfolgt und mit der Galerie September auch Maler vertritt, sieht diesen Stil in Abgrenzung zu den ironischen Zitatspielen, die Martin Kippenberger in Köln einführte. „Berlin ist nicht so satt“, sagt Koerner. „Malerei kommt hier mehr aus dem Leben.“ Schnörkelloser sei sie, „und ohne aufgesetzte Metaebenen mit denen man sich vor Kritik schützt.“

So bringt etwa Kerstin Drechsel Szenen lesbischer Liebe in Aquarelle und Drucke und schließt damit zeitgemäß an eine große Berliner Zeichnerin und Malerein der Zwanziger und Dreißiger Jahre an, Jeanne Mammen, der Kuratorin Eva Scharrer in der Deutsche Bank Kunsthalle mit zehn Gemälden die Ehre erweist. Hier lebt der Berliner Realismus weiter, in seiner aufrichtig-ironischen Sachlichkeit, fern von Illusionen – und ohne das Pathos, das mitschwingt, wenn, von was nochmal die Rede ist?

Ach ja: „Malerei“.

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