„Haben Institutionen und Unternehmen von den Künstlern die Rolle der Avantgarde übernommen?“

Er sei beeindruckt, wie beschäftigt man in Berlin im Juli sei, scherzt Richard Armstrong am Telefon. Na klar: Hier das rastlose New York, dort das müßiggängerische Berlin, so sieht das wohl vom Direktorenbüro der Guggenheim Foundation aus. Bevor Armstrong selbst in Urlaub fährt, spricht er über das "BMW Guggenheim Lab", das sich mit einem Programm aus Vorträgen und Workshops über sechs Wochen bemühte, mit Berlinern ins Gespräch zu kommen - und über all die anderen teuren Unternehmungen weltweit. Erfährt das Modell der globalen Museumsmarke seine Grenzen? Haben Banken Künstler aus der Rolle der Avantgarde verdrängt? Armstrong spricht ein bisschen an wie Sean Penn als gealterter Rockstar in "Cheyenne - This Must Be The Place". Aber er kann auch echt schmutzig lachen.

Welt am Sonntag, 29. Juli 2012

Mr. Armstrong, diesen Sonntag schließt das "BMW Guggenheim Lab" seine Station in Berlin. Was hat es in Ihren Augen der Stadt gebracht?

Es bot eine fokussierte und breite Diskussion. Eine Art intellektuelles Büfett. Man konnte den Alltag hinter sich lassen und im Austausch von Ideen schwelgen. Leute, die ansonsten nicht die Gelegenheit gehabt hätten, konnten mit einem weiten Feld von urbanen Denkern und Spezialisten in Kontakt kommen, und das nicht nur in Forschungsatmosphäre, sondern mit einem Gemeinschaftsgefühl.

Bis Ende letzter Woche wurden 24.000 Besucher gezählt. Ich selbst kenne fast niemanden, der dort war. War es erfolgreich?

Berlins tief verwurzeltes System der Bürgerbeteiligung hat das Projekt bereits auf viele Weisen beeinflusst. Dieses Experiment zielt darauf, dass das Museum seine Mauern hinter sich lässt und auf die Straße geht, um zu hören, was die Leute denken. Das Ergebnis wird am Ende die gesammelte Weisheit sein, die wir aus den neun Städten gewinnen, die das Lab besuchen wird.

Glauben Sie, damit langfristig Einfluss auf Städte nehmen zu können?

Das hoffen wir. Nach dem ersten Zyklus von drei Städten - New York, Berlin und Mumbai - hoffen wir, einiges vom Gelernten zu teilen. Diese Experimente könnten zu veränderten Einstellungen führen, nicht nur unter politischen Führungspersonen, auch bei wirtschaftlichen und geistigen Vorreitern und, wie wir hoffen, bei den visuellen Vorreitern: Architekten, Künstlern und anderen Kreativen.

Es geht Ihnen also vor allem um Führungspersonen?

Nein. Wir beobachten, dass es oft Anführer sind, die sich der Dinge annehmen und andere überzeugen, mit ihnen zu handeln, aber das Lab ist so egalitär wie möglich. Seine Architektur ist von allen Seiten zugänglich.

Das Thema ist mit "Confronting Comfort" denkbar vage. Was bedeutet Komfort für Sie?

Für mich ist der wichtigste Komfort innerhalb der Stadt Ruhe.

Was erhofft sich die Guggenheim Foundation speziell von Berlin als temporärem Standort?

Berlin ist ohne Frage unter dem halben Dutzend der kreativen Zentren weltweit die Nummer eins. Einer der Gründe für uns hierherzukommen ist seine bemerkenswerte Intensität. Die Stadt ist voller Ideen und Erfolge. Aufregend an Berlin finde ich die Bereitschaft, so viele unterschiedliche Ideen und Leute zusammenzubringen. Es ist wieder geworden, was es war: eine vollständige Weltstadt. Und es gehört nicht nur den Superreichen.

Berlin ist die Kohlenmine der globalen Kunstproduktion. Der Gewinn wird woanders gemacht.

Ich würde sagen, dass es mehr ist als eine Kohlenmine. Es ist auch ein großartiger tropischer Schmetterlingswald. Man kann dort so wunderbar leben. Und diese Form von Freiheit ist selten. Für einen Amerikaner ist es natürlich auch ungemein romantisch. Es erinnert mich an New York in den frühen Siebzigern.

Dann wirkte auf Sie auch der Protest gegen das Lab romantisch?

Das vielleicht nicht. Auch wenn ich in dem Alter bin. Ich gehöre zur 68er-Generation.

Hatten Sie denn Verständnis für den Widerstand?

Ich verstand nicht, warum sie sich so verhalten haben.

Eine mögliche Erklärung wäre die: Was auch immer im Lab Brauchbares diskutiert wird und auch wenn der Eintritt frei ist, so geben die Teilnehmer doch auch selbst eine Menge: Deren Anwesenheit und Aufmerksamkeit sind die Rohstoffe, die die Marken von BMW und Guggenheim zum Leuchten bringen, bevor sie in eine andere Stadt weiterziehen. So gesehen agieren die Besucher als unbezahlte Darsteller in einem teuren Werbeclip.

Das ist eine klinische Betrachtungsweise. Als zivilisierte Person sagt man letzten Endes: Miteinander reden ist besser als Drohungen und Gewalt.

Das wiederum klingt sehr abstrakt. Das Guggenheim in Abu Dhabi hat die Förderung der Zivilgesellschaft auf den Fahnen, aber erst ein internationaler Künstlerboykott im letzten Jahr schuf Aufmerksamkeit für die Ausbeutung der Wanderarbeiter auf der Baustelle.

Was Sie sagen, ist auf eine Art recht naiv.

Nun, es ist ein Teil der Wahrheit, dass symbolischer Anspruch und ökonomische Realität oft interessante Widersprüche erzeugen.

Aber würden Sie nach Abu Dhabi kommen, dann würden Sie sehen, dass die Bedingungen für die Arbeiter in den Kultureinrichtungen deutlich besser sind als irgendwo anders. Die Präsenz internationaler Kulturprojekte schafft einen substanziellen Unterschied für Arbeiter.

Auch der Kunstbetrieb beruht in hohem Maß auf Selbstausbeutung, aufseiten von Künstlern wie von prekär beschäftigten Mitarbeitern. Wie kamen Sie zur Kunst?

Nach der Universität kam ich 1973 nach New York, in einem der schwierigsten Momente für die Stadt. Es gab viel Kriminalität und ein generelles Grundgefühl von Verletzung. Durch ein Fortbildungsprogramm des Whitney Museum kam ich schnell mit Künstlern meines Alters zusammen, etwa Julian Schnabel. Ich versuchte mich auch als Studioassistent, aber ich konnte nichts mit meinen Händen anfangen.

Wie würden Sie die gewaltigen Veränderungen im Kunstsystem über die letzten vierzig Jahre beschreiben?

Ich denke, eine positive Sache ist, dass das Publikum für zeitgenössische Kunst so stark gewachsen ist. Eine weitere grundlegende Veränderung liegt darin, dass heute viel mehr Kapital als früher im Spiel ist.

Was ist der Vorteil, wenn es mehr Publikum gibt?

Das Guggenheim Museum wurde aus Bauhaus-Gedanken heraus gegründet und hatte von Beginn an einen Sinn für soziale Verantwortung. Wir finden, dass gerade dieses Museum und die Dinge, die es auf der ganzen Welt tut, und die Leute und Institutionen, mit denen es sich verbündet, so radikal sein sollten, wie es von Anfang an war.

An welche Art Radikalität denken Sie da genau?

Ich denke, wir beginnen damit, Menschen visuell scharfsichtiger zu machen. Ich denke, unser Ziel ist es, Menschen individualistischer zu machen.

Wie hat sich das Produkt der Guggenheim Foundation seit den Sechzigerjahren verändert?

Mit der Übernahme der Peggy Guggenheim Collection in Venedig in den späten Sechzigern begann das Museum seine Fähigkeit und Verpflichtung als Weltbürger zu erkennen. Seit diesem Moment hat sich die Vorstellung des Museums an einem Ort gewandelt.

Das ikonischste Beispiel für das Museum als globale Institution ist die Museumslandschaft auf der Insel Saadiyat vor Abu Dhabi. Sie stellt auch ein neues Modell von Kunstproduktion vor: Seit dem Salon des Refusés kämpfen Künstler um Räume. In Abu Dhabi gründet man gleich noch die Kunsthochschule, um die vielen neuen Räume füllen zu können.

Richtig, das historische Modell ist anders. Dieses hier ist komprimierter. Es als top-down zu beschreiben halte ich dennoch für falsch.

Die Dadaisten schöpften ihre Kraft auch aus der Eroberung eigener Räume. Heute scheint das Angebot vor der Nachfrage zu kommen, der Ausstellungsbetrieb ist Teil der Spekulationswirtschaft geworden.

Kunst ist Teil des menschlichen Lebens, Angebot gibt es also immer. Die Frage ist tatsächlich die Qualität. Und Nachfrage ist ein Ausdruck von Zivilisiertheit.

Die Stadt Helsinki hat im Mai die Ausschreibung für eine Guggenheim-Filiale abgelehnt. Ist das eine finale Absage?

Nein, das wäre übertrieben. Es gab Widerstand wegen Unklarheiten im Projektvorschlag.

Offenbar wartet aber niemand so richtig auf ein neues Guggenheim. Die Filiale in Rio de Janeiro wurde 2008 abgelehnt, in Abu Dhabi ist Baupause, in Berlin gab es Widerstand gegen das Lab. Der Bilbao-Effekt funktionierte bisher so richtig nur in Bilbao. Ist das Modell einer global expandierenden Museumsmarke, das Ihr Vorgänger Thomas Krens prägte, an seine Grenzen gekommen?

Nein, ich würde sagen, Abu Dhabi ist in einer neuen Phase. Und ich würde den Leuten zu Geduld raten. Es ist immer ein Geben und Nehmen. Manche Orte gehen am Ende nicht auf, andere schon. Die Deutsche Guggenheim in Berlin war ein durchschlagender Erfolg.

Während Sie sich zum Ende des Jahres aus der Deutsche Guggenheim zurückziehen, sind Sie im Mai eine Kooperation mit der UBS-Bank eingegangen, um unter anderem in Nordafrika zu investieren.

Drei Kuratoren werden beauftragt, eine Sammlung zeitgenössischer Kunst aus verschiedenen Teilen der Welt aufzubauen, die in New York und anderswo gezeigt werden wird sowie in den Regionen selbst. Momentan reist June Yap aus Singapur durch Südostasien. Später werden Kuratoren für Lateinamerika sowie Nordafrika und den Nahen Osten folgen.

Wem nützen solche Investitionen mehr: Künstlern oder Investoren?

Ich denke, sie nützen allen.

Es scheint, dass, bevor in der Kunst eine Bewegung oder eine starke Idee entstehen kann, heute immer schon eine Institution da ist, die investiert. Haben Institutionen und Unternehmen die Rolle der Avantgarde von den Künstlern übernommen?

Das würde ich nicht sagen. Häufig finden heute Künstler Unterstützung durch eine prominente Institution, und diese wiederum durch ein Unternehmen. Aber ich denke, es bleibt eine Avantgarde, die den Willen der Künstler widerspiegelt. Ich glaube, dass der wirtschaftliche Faktor darin oft recht gering ist.

Es heißt, die Kooperation mit UBS umfasse 40 Millionen US-Dollar. Schaut man noch einmal klinisch auf die Sache, könnte man auch sagen: Kulturinstitutionen und Banken arbeiten Hand in Hand, um neue Märkte zu schaffen und dann dominante Positionen in diesen einzunehmen.

Ich kann für keine Bank sprechen. Aus Museumssicht haben wir untereinander beschlossen, dass wir uns eine Welt von Partnern wünschen. Wir suchen eine tief greifende partnerschaftliche Beziehung. Das Geld, das von bestimmten Sponsoren kommt, macht das möglich.

Wieder hat man eine Institution, die in neue Regionen vordringt und ...

... unsere Chefkuratorin Nancy Spector nennt das Helikopter-Kuratieren, das versuchen wir zu vermeiden. Uns war besonders wichtig, dass die Kuratoren für das "UBS Global MAP"-Projekt keine Leute aus New York oder Berlin sind, die zum Beispiel Kambodscha abdecken.

Es ist interessant, dass Künstler früher um ihre Räume kämpfen mussten, und jetzt müssen Institutionen darum kämpfen, Kunst zu finden.

Sie übergehen ein Kapitel: Als Könige und Königinnen um die Anhäufung von Schätzen kämpften. Ich denke, es ist eine Evolution, und wir befinden uns in einer Art historischem Kreislauf. Was das alles bedeutet, da bin ich mir noch nicht wirklich sicher.

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für kunstkritik 2012

Will-Grohmann-Preis
der Akademie der Künste 2018