Im Karneval der Zeichen

Fleischstücke aus Marmor und YouTube-Blogger auf Koks: Über nichts wird in der Kunstszene derzeit intensiver diskutiert als über Post-Internet Art. Was bedeutet die Digitalisierung der Welt für die Künstler von heute?

Die Zeit, 09. Oktober 2014

Ein neuer Begriff geistert durch die Kunstwelt. Erst war er ein kleines Flackern an den Rändern des Diskurses, mittlerweile hört man ihn wie selbstverständlich in den Künstlerbars von Neukölln und New York, und er breitet sich aus wie ein Schlagwort auf Twitter: "Post-Internet Art". Ohne dass man sich auf eine Definition geeinigt hätte, scheint jeder, der ihn verwendet, zu wissen, was er bedeutet, und so steht er wohl erst einmal für ein geteiltes Grundgefühl oder vielleicht auch nur für einen Wunsch: nach einem neuen Aufbruch. Denn wenn die Digitalisierung alle Lebensbereiche durchdringt, warum sollte die Kunst so weitermachen wie bisher?

Das dachte man sich wohl auch in den Gremien der Berlin Biennale, die gerade die Kuratoren für die kommende Schau 2016 bekannt gegeben hat: Die Wahl fiel auf DIS, ein New Yorker Künstlerkollektiv, das bislang kaum je eine klassische Ausstellung kuratiert hat. Bekannt wurde es viel mehr mit seinem schrillen Onlinemagazin DIS Magazine, einer Art Zentralorgan der Post-Internet Art.

Nur, was ist "Post-Internet"? Ist es eine Ästhetik? Eine Bewegung? Ein Stil? Oder steht Post-Internet für eine allgemeine Verfasstheit der Gegenwart, einen Umbruch im Verhältnis von Mensch und Technik, von Subjekt und Gesellschaft?

In den letzten Jahren war die zeitgenössische Kunst, zumindest die auf Biennalen, von einem melancholischen Diskurs bestimmt. Ratternde 16-Millimeter-Projektoren und fein abgezählte Hölzchen und Stöckchen arbeiteten sich am Erbe der Aufklärung und ihres klassifikatorischen Denkens ab, im Vertrauen auf eine subtile Widerständigkeit der Kunst. Die letzte Berlin Biennale lässt sich als letzter müder Augenaufschlag dieses Diskurses verstehen.

Dagegen kündigte sich schon im vorigen Jahr auf der Venedig-Biennale in Werken von Anfang 30-Jährigen ein neuer Ton an, voll von Welt, und zwar einer Welt, wie sie heute ist: vernetzt und durch und durch bestimmt von digitaler Technik. Die Videoinstallation Grosse Fatigue von Camille Henrot präsentierte den Desktop als Fenster zur Realität. Über das Hintergrundbild eines Zebras legte sich Bildschirmfenster auf Bildschirmfenster mit immer neuen Videos: Mal hob ein Archivar zärtlich ausgestopfte Tukane aus Museumsschubladen, mal rann Shampoo in Werbeästhetik nackte Männerkörper herunter. Über einem hypnotischen Beat erzählte eine aufgeregte Männerstimme Geschichten der Weltentstehung aus verschiedensten Kulturen. Die Arbeit kündete vom beschleunigten, offenen Denken einer jungen Generation. Sie zeigte die Welt als Scheibe, flach wie der Bildschirm eines Tablets, auf dem Fremdes wie Vertrautes griffbereit nebeneinanderliegen. Camille Henrot wurde in Venedig mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet, vor zwei Wochen bekam sie in Krefeld den Nam-June-Paik-Preis.

Vor Kurzem präsentierte dann das Kasseler Fridericianum eine Schau, die allgemein als Bestandsaufnahme der Post-Internet Art gilt, auch wenn der Begriff vermieden wurde. "In einer Welt voll von generierten Bildern verändert sich der Auftrag der Kunst", verkündete das Begleitheft programmatisch. Und so beherrschten denn computergenerierte Bilder das Museum, wobei sie nicht nur zweidimensional waren. Yngve Holen hatte drei Fleischstücke aus einer Berliner Metzgerei per 3-D-Scanner erfassen und nachmodellieren lassen – in Carrara-Marmor, dessen roter Glanz dem der Originale glich. Sie waren auf höhenverstellbaren Bühnenelementen ausgelegt, was an die Produktpräsentation auf einer Messe erinnerte. Timur Si-Qin hatte mit Samuraischwertern einige Axe-Shampoo-Flaschen durchbohrt, deren greller Inhalt auf den Boden suppte. Die überdrehte Ästhetik der Werbung und der Bildermüll der Netzkultur fanden hier ihre Würdigung als eine Art zweiter Natur.

Ein brusthohes Chamäleon stand im Raum und schien argwöhnisch das Geschehen zu beäugen. Katja Novitskova hatte sein Foto aus dem Internet gezogen, es auf eine Aluminiumplatte gedruckt und aufrecht in den Raum gestellt. Wenn die 30-Jährige ihre Installationen mit Pinguinen oder schmusenden Giraffen fotografiert und wieder ins Netz stellt, dann schießen sie schon mal an die Spitze der Hitlisten der Bildblogs, befeuert von einem anonymen Publikum, das nichts mit Kunst zu tun haben muss.

So wird der Ausstellungsraum gleichsam zum Zwischenlager, zum Knotenpunkt für Feedbackschleifen der Aufmerksamkeit. Viele Künstler, erzählt der Berliner Galerist Amadeo Kraupa-Tuskany, machten, sobald die Werke im Raum positioniert seien, erst mal ein Foto davon und prüften die Wirkung auf dem Bildschirm. Fotogenität wird zum zentralen Qualitätskriterium.

Dabei ist diese Kunst ja erst vor Kurzem aus dem Bildschirm ausgebrochen. Viele der Post-Internet Artists verbreiteten ihre Ideen zunächst online in sogenannten Surfing Clubs, bevor sie die digitale Zirkulation mit der des Kunstmarkts kurzschlossen, der nun mal nach schwer kopierbaren Objekten verlangt. Doch tragen diese Objekte die digitale Ästhetik mit ihren Zufällen und Übersetzungsfehlern in den physischen Raum. So entstehen Florian Auers Skulpturen zwar in aufwendiger Handarbeit, sehen aber aus, als habe man sich in eine virtuelle Umgebung verirrt, etwa wenn aus dem Galerieboden silberne Finger ragen, die eine Glasplatte mit Bildschirm halten. Die Bildhauerin Nora Schultz bevorzugt klassische Materialien wie Stahl oder Papier, doch arbeitet sie irritierende Wiederholungen ein, die wirken wie von einem fehlerhaften Algorithmus produziert. Und die Malerin Avery Singer baut Szenen aus der Kunstgeschichte im 3-D-Programm nach, bevor sie diese grau in grau auf Leinwand überträgt. Kubismus trifft in diesen Motiven auf die Flachheit von Photoshop.

So blickt Post-Internet Art dem Umstand ins Auge, dass das Netz nichts mehr ist, was sich von der Realwelt unterscheiden ließe. 2012 überzeugte der Berliner Künstler Oliver Laric ein Museum in Lincolnshire, dessen Skulpturensammlung des 18. Jahrhunderts als 3-D-Scans zu erfassen und für jeden online zum Ausdrucken bereitzustellen.

Allerdings unterscheiden viele Künstler, den Zeitschriften- und Buchverlagen nicht unähnlich, zwischen Online- und Offlineangeboten: Die Filme des Amerikaners Ryan Trecartin etwa lassen sich kostenlos auf Vimeo sehen, doch für die Rauminstallationen, die gemeinsam mit der Bildhauerin Lizzie Fitch entstehen, legt manche Sammlerin bis zu zwei Millionen Dollar hin.

Der 33-jährige Ryan Trecartin ist eine Gründerfigur der Post-Internet Art. Betritt man zum ersten Mal eine seiner wuchernden Installationen, wie dieser Tage in den Berliner Kunst-Werken, wird man zurückgestoßen von den Selbstdarstellern mit Perücken und echsenartigen Kontaktlinsen, die in die Kamera plappern wie YouTube-Blogger auf Koks. Die menschliche Wahrnehmung ist nicht dafür gemacht, mit dem hyperaktiven Schnitt und dem ständig abbrechenden Soundtrack mitzuhalten. Doch dann, wenn man gar nicht mehr Herr der eigenen Sinne ist, wird man plötzlich in diesen technoiden Karneval der Zeichen hineingezogen. Es scheinen nicht mehr nur Menschen zu sein, die hier sprechen, es sprechen auch die Geräte und Logos, die das Verhalten der Menschen konditionieren. Kamera und Schnitt wirken, als hätten sich die Aufzeichnungsgeräte von menschlicher Kontrolle befreit.

Trecartin blickt voraus in eine Welt, die feste Hierarchien von Geschlechtern, von Mensch und Technik, von Geschmack oder auch Kunst hinter sich gelassen hat. Und je länger man sich dieser Welt aussetzt, desto mehr erkennt man in ihr die eigene. So durchbricht Trecartin den melancholischen Diskurs der Systemkritik, ähnlich wie seine Freunde vom DIS Magazine in ihren satirischen Beiträgen zu Selfies, Turnschuhen oder Pflegeprodukten. Es gehe nicht darum, den Dingen mit Analyse oder Kritik auf den Grund zu gehen, erklärt das DIS-Kollektiv, sondern sie "in der größtmöglichen Übersteigerung wiederzugeben". Subversion nicht durch Abgrenzung, sondern durch Aneignung und Überbietung: Das ist die klassische queere Strategie der Travestie.

So wie Andy Warhol die Methoden von Hollywood und Popkultur übernahm, stürzen sich Post-Internet-Künstler auf die Ästhetik von Werbung und Industriedesign wie wild gewordene Jugendliche auf einem Plünderungsfeldzug durch Sportgeschäfte und Elektronikmärkte, und manche Installation sieht denn auch genauso aus. Eigentlich ein klassisch marxistischer Ansatz: Die Produktionsapparate sind super. Jetzt gehören sie uns!

Zirkulation ist das übergreifende Thema dieser Kunst, die weniger von Subjekten handelt als von Systemen: Während Andy Warhol die klassische Kulturindustrie als Gegenüber hatte, erfährt diese Generation sich als Teil des sogenannten prosumerism, in dem jeder Konsument auch Produzent ist und zunehmend Geräte und Software zu Co-Autoren werden.

Ist Post-Internet-Kunst also eine Ästhetik? Ja, nur hat die Kunst sie nicht erfunden, sondern von Werbung, Mode, Software und Produktdesign übernommen. Ist sie ein Stil? Ja, doch zeichnet er sich dadurch aus, dass er die individuelle Handschrift zu überwinden sucht. Ist sie eine Bewegung? Ja, allerdings eine, die ohne Manifest auskommt und die kritisches Wissen nicht vor sich her trägt, sondern augenzwinkernd voraussetzt. Und damit immer auch zu einem Kreis von Kennern und Eingeweihten spricht.

Nicht zuletzt kündet das Wort Post-Internet selbst von einer Beschleunigung der Diskurse. Es ist kein Gattungsbegriff, um den ein ideologischer Streit unter Kritikern entstehen könnte wie noch zur Zeit des Minimalismus. Er funktioniert tatsächlich eher wie ein Schlagwort auf Twitter: Kaum ist er in der Welt, ist er schon sein eigenes Zitat. Und in zehn Jahren wird ihn wohl keiner mehr verstehen.

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für kunstkritik 2012

Will-Grohmann-Preis
der Akademie der Künste 2018