In Fordlândia brennt noch Licht

Detroit im Tropenwald: Eine Reise zu den Ruinen von Henry Fords Kautschukkolonie im Amazonas

Welt am Sonntag, 04. August 2014

Die Nacht hängt noch schwer über dem Rio Tapajós. Silberne Fischrücken teilen die schiefergraue Spiegelfläche, ihr Schwappen mischt sich mit stoßweisem Atmen: Flussdelfine. Aus dem Schilf dringt der Bariton eines Kaimans. Grillen schnarren, und über unseren Köpfen zappeln die Fledermäuse. Flussaufwärts vergeht unser Schiff in der Schwärze, einen goldenen Faden aus Licht hinter sich herziehend. Und während die ersten Hähne krähen und die Schwüle beginnt an der Haut zu kleben, stehen wir am Steg und erwarten das Morgengrauen. Warten darauf, dass das Ziel der Reise vor uns aufgeht: Fordlândia. Die Idealstadt Henry Fords im Amazonas. Eine nordamerikanische Siedlung mit Villen im Cape-Cod-Stil, mit Swimmingpools und Golfplatz, im Herzen des größten zusammenhängenden Regenwalds der Erde.

Es war eine weitere Nacht in einem Geflecht aus dicht gespannten Hängematten, in dem die kleinste Körperregung alle Nachbarn mit zum Schwanken bringt. Zwölf Stunden sind wir mit dem Schiff von Santarém gefahren, der nächsten größeren Stadt, selbst drei Schiffstage von Belém entfernt, wo das Amazonasdelta mit den gesammelten Wassermassen des oberen Südamerika in den Atlantik mündet. Paris der Tropen hieß Belém während des brasilianischen Kautschukbooms im 19. Jahrhundert, mit seiner Straßenbahn, seinen Parks und den hell erleuchteten Trottoirs. Drei Tage von Santarém flussaufwärts liegt Manaus, mit seiner berühmten Oper, dem Teatro Amazonas mit Säulen aus englischem Stahl und Kronleuchtern aus Murano-Glas. Und hier, an einem der größten Nebenarme des Amazonas, legten 1928 zwei Frachtschiffe der Ford Motor Company an, die aus Detroit das Material für die Gründung einer Kautschukplantage brachten: Kräne, Bulldozer, Traktoren und Fertighausteile.

Henry Ford wäre nie mit dem Schiff gekommen. "Wenn ich nach Brasilien reise, dann mit dem Flugzeug", erklärte er. Ach, es war eine große Zeit. Mit der Fließbandfertigung, abgeschaut von den Schlachthöfen Detroits, hatte Ford den erfolgreichsten Pkw der Geschichte entwickelt, den Model T, der auch aus Werken in Brasilien rollte. Ford verfügte über eigene Eisen- und Kohlenminen, Forste und Kraftwerke. Nur beim Naturkautschuk für Scheibenwischer, Fußmatten und Reifen war er von den schwankenden Weltmarktpreisen abhängig. Deshalb ließ er 1927 ein Stück Regenwald von der Größe Schleswig-Holsteins kaufen, um Kautschuk in industriellem Maßstab anzubauen.

Tatsächlich ging es hier am Rio Tapajós um noch viel mehr. Fordlândia war ein Musterprojekt der industriellen Moderne, und die wollen wir zu Fords 150. Geburtstag noch einmal anschauen, gewissermaßen aus ihrem Negativ: ihrem Scheitern. In dem, was der Dschungel von ihr übrig ließ, wo noch jede Großplanung an ihre Grenzen kam.

Vor hundert Jahren standen hier um diese Zeit die Kautschukzapfer auf. Ließen die Leitern von den Hütten, die zum Schutz vor Jaguaren auf Stelzen standen. Griffen ihre Macheten und gingen die Kautschukbäume ab, in deren Rinde sie ein V-förmig zulaufendes Rippenmuster ritzten, aus dessen Spitze dickflüssige Milch in einen Becher tropfte. Sie wurde über dem Feuer zu Ballen verhärtet, die auf Schiffen nach Liverpool reisten, nach Hamburg und Detroit. Bis 1912 kam fast die Hälfte des Weltbedarfs an Kautschuk aus dem Amazonasbecken, und der beste Kautschuk, hieß es, kam von hier, vom Rio Tapajós. Dann sank unter der Konkurrenz aus Asien das brasilianische Kautschukimperium zusammen, etwa zur gleichen Zeit, als Henry Ford in Detroit die Fließbandarbeit einführte. Begeistert feierten daher Politiker den "Moses des 20. Jahrhunderts", als bekannt wurde, er würde am Tapajós investieren.

Fords Massenproduktion und die brasilianische Kautschukwirtschaft, das war ein Gegensatz wie Moderne und Mittelalter. In Fords Werken war jeder Handgriff aus göttlicher Ingenieursperspektive geplant, war jeder ein Rad im Gesamtgetriebe und erhielt zum Monatsende einen festen Lohn. Im Amazonas brachte der Zapfer alle paar Monate ein paar Ballen zum Kautschukbaron und bekam dafür nach Willkür Naturalien. Wer beim Jagen erwischt wurde, beim Pflanzen von Maniok oder auf der Flucht, den traf die Peitsche. Ford schickte dagegen seine Arbeiter im Sommer zum Gärtnern aufs Land. 1914 verdoppelte er mal eben den Tageslohn auf fünf Dollar, während er mit seinem Model T die Preise der Konkurrenz um mehr als die Hälfte unterbot.

Das feudale Schuldsystem der Kautschukbarone zielte darauf, Arbeiter in lebenslanger Abhängigkeit zu halten. Ford wollte redliche, fleißige Amerikaner. Seine Konkurrenten schimpften, der Fünf-Dollar-Tag reiße die Automobilindustrie in den Abgrund. Dabei hatte Ford mal eben einen neuen Markt erfunden: Von jetzt ab würden Arbeiter auch Kunden sein.

Denn Henry Ford ging es nie nur darum, Autos zu bauen. Die seien eigentlich nur ein Nebenprodukt, sagte mal der Leiter seiner Personalabteilung. Fords Kerngeschäft, das sei die Produktion von Menschen. So wie alle Ideologen dieser Zeit vom "Neuen Menschen" träumten, die Kommunisten, die Faschisten und auch die Zionisten, so sah auch der Bauernsohn aus Michigan sich als Reformer und Wegbereiter einer besseren Gesellschaft, in der der Rhythmus der Maschinen mit dem Frieden der Landarbeit zum Einklang finden würde. Ford werde im Regenwald nicht nur Kautschuk kultivieren, versprach die "Washington Post", "sondern auch die Kautschuksammler".

Ford, der Lenin, Mussolini und Hitler zu seinen Bewunderern zählte, verkörpert wie kein anderer die Moderne. Nicht nur in seinem unbedingten Machbarkeits- und Fortschrittsglauben, sondern auch in der Verklärung jener Welt, an deren Abschaffung er arbeitete. Während der Börsencrash von 1929 die Weltwirtschaft in die Große Depression trieb, begann Ford am anderen Ende der Welt noch einmal ganz von vorn mit dem Aufbau einer amerikanischen Idylle, frei von allem, was seiner Ansicht nach schuld war am gesellschaftlichen Niedergang: Gewerkschaften, Banken, Juden. Und Kühe. Kühe waren für den überzeugten Vegetarier nämlich "ineffiziente Maschinen". In Fordlândia gab es nur Sojamilch.

Die Übertragung eines funktionierenden Systems in ein anderes erwies sich allerdings als schwierig. Ford konnte den Produktionsablauf eines Model T in 7882 Einzelschritte zerlegen. Aber all die Arbeitsschritte, die allein auf einem Blatt des brasilianischen Kautschukbaums in jeder Sekunde ganz ohne menschliches Zutun ineinander greifen, konnte er nicht überblicken. Hätte Ford nicht einen ausgeprägten Dünkel gegen Experten gehabt, hätte er für seine Plantage vielleicht den Rat regionaler Botaniker eingeholt. Die hätten womöglich verhindert, dass die Bäume so dicht gepflanzt wurden wie Maschinen in einer Fabrik. Monokultur funktionierte in Südostasien, von wo aus Briten und Holländer mit geschmuggelten Samen aus dem Amazonas inzwischen den Weltmarkt beherrschten. Dort hatte der Baum keine natürlichen Feinde, während in Fordlândia Pflanzung um Pflanzung Blattfäule und Tausendfüßlern zum Opfer fiel, die bequem von Baum zu Baum wandern konnten.

20 Millionen Dollar versenkte Henry Ford am Tapajós, ohne dass je eine Ladung Kautschuk das Ufer verließ. 1945 kaufte der brasilianische Staat das Land für 500.000 Dollar zurück.

Heute inspiriert Fordlândia nicht mehr Technokraten, sondern eine Handvoll Künstler und Historiker. Es gibt den etwas ungelenken Roman "Fordlandia" von Eduardo Sguiglia. Es gibt ein pathetisches Experimentalbum des Musikers Jóhann Jóhannsson. Und es gibt ein gefeiertes Buch des Historikers Greg Grandin, das all die Meldungen und Direktiven, die zwischen Fordlândia und Detroit hin- und hergingen, als packendes Abenteuer erzählt, in dem sich die ganze Geschichte des US-Expansionismus spiegelt. Dann wehen noch Fotos von unbestimmbarem Entstehungsdatum durch das Internet, die eine entvölkerte Geisterstadt zeigen, an deren Ruinen der Urwald frisst. Fordlândia, heißt es immer, die Geisterstadt im Dschungel.

Man kann sich den Unglauben vorstellen, der vor achtzig Jahren Reisende auf dem Tapajós erfasst haben muss, wenn mitten im Urwald elektrische Straßenbeleuchtung brannte. Und als vorhin unsere Barkasse die letzte Biegung des Ufers nahm, glaubten auch wir, wir sähen Gespenster. Denn die Laternen brennen noch immer.

Die Nacht macht dem Nebel Platz, der Morgennebel, der die Blattfäule nährt. Stolz ragt der Wasserturm auf, die Ikone des Mittleren Westens. Das geschwungene Ford-Logo, das hier einst wie eine Flagge prangte, ist lange vom Regen abgewaschen. Am Steg spannt sich das Dach einer Lagerhalle über filigrane Stahlträger und Glasfronten, die von schmalen Bleistreben gerastert sind – der Stil von Fords Fabriken in Detroit. Für eine Kriegsschiffsfabrik Henry Fords hatte der Architekt Albert Kahn im Ersten Weltkrieg dieses schlichte Satteldach aus Stahlträgern entworfen, das bis heute im hintersten deutschen Industriegebiet zur Anwendung kommt. Glaubt man dem Film "Albert Kahn. Architekt der Moderne", so stattete der Sohn jüdischer Einwanderer aus Frankreich damals die Nordhalbkugel fast im Alleingang mit Industriebauten aus. Während in Fordlândia Kahns Lagerhalle, das Sägewerk und das Krankenhaus entstanden, übersah sein Büro in der Sowjetunion den Bau von 500 Fabriken auf einmal. Und im Zweiten Weltkrieg überzog er die USA mit Rüstungswerken. Kahns Gebäude sind so bescheiden wie beständig, selbst unter tropischen Bedingungen haben Fenster und Wellblech fast achtzig Jahre gehalten. Nur in der Mitte spiegelt sich das Netz der Dachstreben in einer großen Pfütze.

Die etwas verspieltere Kirche auf dem Hügel muss dagegen nach Fords Zeiten entstanden sein. Zu ihren Füßen begrüßt ein freundlich gestalteter Platz die Ankommenden mit gepflegten Blumenbeeten, zwischen denen die Skulpturen eines Kautschukzapfers und eines Jaguars herumstehen. Das ist so in etwa das Zentrum. In Richtung der einstigen Arbeitersiedlung folgt in lockerer Bebauung ein Kaufladen, der Boa Vista heißt wie die Siedlung, die hier vor Fordlândia stand, und eine Motorradtaxi-Station, die sich "Ford Motor Taxi" nennt. Schräg gegenüber prangt in schwarzen Lettern über die gesamte Breite eines Zauns der Schriftzug "Pousada Americana": amerikanisches Gästehaus. Amerikanisch, das lässt sich mit Ordnung und Wohlstand übersetzen, mit Rührei und Kaffee. Wirtin Rita schenkt großzügig nach. Ja, der Wasserturm sei noch in Betrieb. In Fordlândia duscht man mit dem höchsten Wasserdruck des ganzen Tapajós.

Unser unangekündigtes Auftauchen scheint niemanden zu überraschen. Wirt Guilherme weiß schon, was wir wollen, er lädt die neuen Gäste in den Ford-Pick-up und fährt rüber zum alten Sägewerk.

Im Lauf des Tages wird Guilherme Lisboa eine Schildkröte präsentieren und drei gewaltige Fische, die er mit seinen Freunden aus dem Fluss geholt hat. Auf seiner Veranda schafft Lisboa so viele Liegestütze wie er Jahre alt ist, 64. Als Kaufmann hat er sich eine stattliche Rente verdient, mit Waren aus São Paulo, die er mit dem Schiff an Geschäfte im Amazonasbecken lieferte. "Das war harte Arbeit." Das Schiff lief auf Sandbänke, Vandalen zapften Benzin ab. Vor vier Jahren hat Guilherme in Fordlândia ein Haus gebaut, vor zwei Jahren eröffnete er die Pension. Jeden Abend tischt Rita einen anderen Flussfisch auf, tags bringt sie Kokosnüsse aus dem weitläufigen Garten und schenkt den köstlichen weißen Saft der Cupuaçu-Frucht ein.

"Am Anfang war es nicht so leicht für uns", erzählt sie. Die Anwohner reagierten mit Misstrauen auf die Neuen aus der Stadt, manchmal brach jemand ein. Deshalb der Zaun, hinter dem ein amerikanischer Pit-Bull-Terrier wacht, so groß wie ein Pony und mit tödlichem Biss. Inzwischen scheinen die Neuen integriert zu sein, nach und nach taucht fast jeder, den wir im Ort treffen, mindestens einmal im Garten der Lisboas auf, um das Internet zu nutzen oder was dazuzuverdienen. Nächstes Jahr wird angebaut, mit zehn neuen Gästezimmern. Guilherme Lisboa ist ein Mann des Fortschritts, der Henry Ford gefallen hätte. Also die Art Mensch, die wir hier draußen nicht erwartet hätten. Mit Karacho ist er in einen Ort eingefahren, der bislang ein paar Gänge langsamer tickte.

Verwittert ragt oben neben dem Wasserturm das Herz Fordlândias auf, das alte Sägewerk. Der Aufseher, der über das Gelände wacht, winkt freundlich durch. Morsche Dachverkleidungen wellen sich zur Seite weg. Im Morgenlicht schillert das lückenhafte Fensterwerk wie angefressene Insektenflügel. Drinnen tut sich ein Kabinett der zerbrochenen Dinge auf, aus Krankenhausbetten, Aktenschränken und Autowracks. Auch ein Sarg liegt auf Holzböcken (leer). In Fordlândia wurde nur Material verwendet, das aus Michigan geliefert kam, das galt für Bestattungen wie für das Milchpulver, das der Firmenchef statt Muttermilch empfahl. Neben vielen anderen Themen äußerte sich Henry Ford nämlich auch gerne öffentlich zu Ernährungsfragen. Am anderen Ende der Halle stehen die Sägen, die Pressen und Drehbänke, an denen noch das Öl klebt. Diese abwartenden Stahltrumme sind von einer Respekt einflößenden Autorität. Sie sind ihr eigenes Gesetz. Würde sich eines Tages der Dschungel den Ort zurückholen, dann würden sie noch immer als Solitäre aus dem Unterholz ragen.

"Eine Maschine ist, wie alles Menschengemachte, wie ein Buch", hat Henry Ford einmal gesagt. "Man kann darin lesen. Es ist eine Aufzeichnung des menschlichen Geistes." Lesen wir also in den Maschinen, die Mr. Ford uns hinterlassen hat, und betätigen den großen Hebel, an dem steht: "Reverse".

Cambridge, 1840. Unter Pinien sitzt Naturphilosoph Ralph Waldo Emerson und schreibt an seinen "Essays". Darin spricht er sich für Unabhängigkeit und Selbstverantwortung aus und für ein Leben im Einklang mit der Natur und der Stimme des eigenen Herzens. "Trau dir selbst", lautet das Schlagwort seines radikalen Individualismus, in dem das ganze amerikanische Ideal des Selfmademans steckt.

Henry Ford, der lieber Nachbarn bei der Ernte half als in den Clubs von Detroit zu kungeln, liebte Emerson. "Zwei Bücher liest er", verriet ein früher Biograf: "Emerson's 'Essays' und die Bibel." Von Emerson habe Ford auch den Glauben an die Vereinbarkeit von Landwirtschaft und Industrie, schreibt "Fordlandia"-Autor Greg Grandin, der Ford einen "industriellen Pastoralisten" nennt. Maschinen waren für Henry Ford Pflanzen – und Pflanzen Maschinen. "Was wir Abfall nennen, ist bloß Mehrwert", bemerkte der engagierte Recycler, "und Mehrwert ist bloß der Beginn neuer Nutzungen." Dieses Weltbild gipfelt in der zutiefst amerikanischen Fantasie einer autarken Maschine, die in der Lage wäre, sich selbst zu unterhalten. Es ist der Traum vom Profit ohne Verluste, von grenzenlosem Wachstum. Ein solches Perpetuum mobile sollte auch Fordlândia werden, das mit seiner Produktivität schon bald den ganzen Amazonas anstecken würde, mit Straßen, Hydranten, Demokratie und Sojamilch, "bis unter dem Jubel der Urwaldbevölkerung der gesamte Dschungel industrialisiert ist" ("Time Magazine").

Bis der Kautschuk flösse, sollte die Plantage sich über den Verkauf der gerodeten Tropenhölzer finanzieren. Nur fanden sich während der Depression für die schönsten Hölzer keine Abnehmer, und so ging man in Fordlândia bald dazu über, das gerodete Holz zu verbrennen.

Man könnte sagen, dass Fordlândia das genaue Gegenteil einer sich selbst erhaltenden Maschine war, es war eine Stätte bodenloser Konsumtion: Das Einzige, was hier wirklich etwas produzierte, war dieses Sägewerk, nämlich Bahnen von Schnittholz, das niemand braucht. Und Weidegrund für die von Ford verhassten Kühe.

In der Mittagshitze scheint das Dorf still zu stehen. Ein Mädchen sitzt unter dem Baum und macht Hausaufgaben, während ihr Bruder lustlos die Machete ins Unkraut haut. Ein Jogger trabt hinab in den Wald, wo es schattig ist. Die zwölfjährige Weiciane grüßt fröhlich vom Fahrrad, tritt in die Pedale und rollt mit der Schwester auf dem Gepäckträger den Weg runter zum nächsten Hügel, auf dem das amerikanische Dorf steht. So nennt man hier die Villen, die die Ford Motor Company für ihre Manager errichtete. Abends tanzte dort der Chef des Sägewerks mit seiner Frau zu Radiosendungen aus den Staaten, die über Relaisstationen in Nicaragua und Kolumbien Songs von Rudy Vallee bis unter die Wipfel der Mangobaum-Allee schickten: "Deep night, whispering trees above …"

Die Mangobäume stehen noch immer, ihre Stämme sind dick und knorrig geworden und die Kronen bilden ein geschlossenes Dach. Heute wohnt hier Weiciane Carlos da Silva Pereira mit ihrer Familie. Vor ein paar Jahren, als ihre Familie aus dem Bundesstaat Mato Grosso im Südamazonas nach Fordlândia kam, war sie noch obdachlos. Deshalb organisierte der damalige Gemeindevorsteher ihr mietfrei dieses Haus, mit Stuck, Parkett, goldenen Wasserhähnen und Blick aus großen Fenstern über die Palmwipfel auf den Wasserturm und den Fluss.

Nach Abzug der Ford Motor Company hatten sich Regierungsbeamte die Häuser gesichert. Später wohnten hier Ärzte des nahe gelegenen Ford-Krankenhauses, das noch bis 2002 in Betrieb war. Vor zwei Jahren machte sich dann Gemeindevorsteher Expedito Duarte de Brito daran, die Häuser vor dem Verfall zu retten. "Es war alles zugewuchert", erklärt er, der selbst ins Nachbarhaus gezogen ist. "Ich schnitt das Strauchwerk zurück, damit es nicht den ganzen Weg verschlang." Dann schickte der Pensionär einen Antrag nach Belém, die Häuser mietfrei nutzen zu dürfen, um sie erhalten zu können. Denn seit 1945 sind sie Eigentum des Landwirtschaftsministeriums, wie auch der gesamte Grund Fordlândias. So gehört auch Guilherme zwar sein Haus, aber nicht die Erde, auf der es steht. Die Gemeinde findet ihre eigenen Lösungen.

Mit Freiwilligen schaffte de Brito das Inventar aus der Ford-Zeit in einen Speicher im alten Sägewerk – mit Ausnahme der geflochtenen Schaukelstühle im Wohnzimmer. Und der Tischgarnitur im Esszimmer, die allerdings nicht den Eindruck macht, als habe de Brito sie auch nur einmal verrückt. Man muss die Fensterläden öffnen, um im schräg durch den Staub schneidenden Nachmittagslicht das edle Parkett bestaunen zu können, in jedem Zimmer ein anderes. Selbst scheint der alte Herr nichts in den Haushalt eingebracht zu haben. Er lebt in fast kahlen Räumen zwischen ein paar Antiquitäten mit Museumswert. "Wir warten auf eine Entscheidung", sagt er, "und so lange schützt uns Gott."

Das steht zu hoffen, denn Mietverträge gibt es nicht. Aber Weicianes Vater hat keine Sorge, dass man ihn wieder hinausbitten könnte. "Wir sind beauftragt, uns um das Haus zu kümmern." Daniel Dias Pereira entschuldigt sich kurz und bringt eine alte Kachel, von der er lächelnd den Staub pustet: "Germany", steht auf der Rückseite. Deutschland, das lässt sich mit Ordnung und Wertarbeit übersetzen, während Brasilien einmal mehr für grenzenlose Freundlichkeit gegenüber Gästen steht. Wovon lebt Pereira? Er pflanze Bananen, Maniok und Kürbis im Garten, erklärt er, die Früchte verkaufe er in der Schule oder am Hafen. Manchmal geht er Guilherme von der Pousada Americana mit Hilfsarbeiten zur Hand. Es ist ein Leben auf Subsistenzwirtschaft, wie sie hier vor der Ford Motor Company herrschte und wie sie nach der Ford Motor Company wieder einzog.

Schon Fords Personalchefs hatten Probleme, Arbeiter auf der Plantage zu halten. Viele stiegen nach der ersten Auszahlung wieder in die Boote um den Rest des Jahres vom Jagen und Fischen zu leben. Zur Verblüffung der Amerikaner hatte hier niemand auf feste Löhne gewartet. Denn der Amazonas ist tatsächlich das, wonach Henry Ford sein Leben lang suchte und das er vor lauter Bäumen nicht sah: eine selbsterhaltende Maschine, die alles liefert, was man zum Leben braucht.

Eine achtköpfige Familie komme in Fordlândia mit 600 Reais im Monat über die Runden, lernen wir von Schuldirektor Pedro Paulo da Silva Porto, der in seinem Büro hinter einer Blumentischdecke aus Plastik empfängt. Das sind 200 Euro. "Unsere Schule kauft den Bauern das Gemüse ab", erklärt der Direktor. "Es ist ein sich selbst stützendes System." Und es wächst, ganz von alleine: Die Schülerzahl ist in den letzten Jahren auf 230 angestiegen, 134 Erwachsene besuchen die Abendkurse. Und das ist nur die Oberschule, die Franziskanermönche 1964 bauten. Es gibt noch die Grundschüler in Fords puritanischem Bau von 1931. Manche fahren morgens achtzehn Kilometer mit dem Bus oder zweieinhalb Stunden mit dem Schnellboot zur Schule. Die Neuen sind wie die Pereiras aus dem Mato Grosso gekommen oder wie die einstigen Angestellten Fords aus dem noch immer armen Nordosten.

Der brasilianische Wirtschaftsboom, belebt durch die Reformen des letzten Präsidenten Lula, neue Ölbohrungen im Atlantik und die Ausbeutung des Amazonas, macht es nicht allen leichter, und so hat sich in den letzten Jahren diese einmalige Sonderwirtschaftszone herumgesprochen, in der man Boden bewirtschaften kann, ohne zu bezahlen.

Vor zwei Jahren hatten sich etwa 800 Menschen im Umland der sogenannten Geisterstadt eingerichtet. Heute spricht man von 2000. Nachdem Fords Leute fort waren, erzählt Silva Porto, wuchsen große Teile des Waldes wieder zu. Heute wird in Fordlândia wieder gerodet. Sogar ein neues Sägewerk soll es geben, oben im Wald.

Manche seiner Schüler gingen zum Studium nach Santarém, erklärt Direktor Silva Porto. Aber fast alle kommen wieder zurück, heiraten und bleiben Kleinbauern.

Vier Kaufläden zählen wir im Dorf, drei Bars, in denen man ohne Musik mit dem Bier rumsteht und keine Disco bis auf den F-4000 des siebzehnjährigen Lucas Varao de Olivera. Der F-4000, Baujahr 1992, ist ein stattlicher Ford Pick-up mit 140 PS, auf dessen Ladefläche Lucas ein ebenso stattliches Soundsystem installiert hat, mit dem er nachts brasilianischen Baile Funk und die besten Hits der Achtziger durch Fordlândia fährt, das heißt: die ungeteerte Hauptstraße hoch und wieder runter zum Hafen.

Kein Zweifel, Fordlândia ist arm. Aber es gibt Orte, an denen man sich seiner Anwesenheit schämt, so trostlos sind sie. Dieser gehört nicht dazu.

Mit seiner Machete zeigt Duca Silva dos Santos über die Hügel: "Hier standen überall Kautschukbäume. Du konntest eine Stunde mit dem Auto fahren, ohne ein Ende zu sehen." Santos, 63, hat spielende blaue Augen, die blitzschnell zwischen Schalk und Resignation wechseln, ein verschmitztes Lächeln und die Haut von einem, der sein Leben lang im Wald war. Als Junge half er dem Vater beim Kautschukzapfen. Er zeigt uns, wie man die dreigliedrigen Blätter des Kautschukbaums erkennt und die Rinde anritzt. Während seine drei Hunde beflissen die Gruppe absichern und Rinder anbellen, haut Duca dos Santos mit der Machete den Weg frei, hoch zum Friedhof, wo wir den Vater besuchen.

Romualdo Santos hatte als junger Mann in Fordlândia angeheuert. "Er hat geschuftet wie verrückt." Die Amerikaner stellten in Fordlândia nicht nur die Zeit auf Detroiter Uhren um, sondern das gesamte Zeitregime des Tropenwalds. War es üblich, am frühen Morgen zu arbeiten und in der Mittagshitze zu rasten, zwang nun die am Wasserturm angebrachte Fabriksirene zu Einheitsschichten bis drei Uhr nachmittags.

Regelmäßig mussten Arbeiter nicht nur ihre Körper Inspektionen unterziehen, sondern auch ihre Häuser. Schon in Detroit ließ Ford die fünf Dollar Tagessatz nur auszahlen, wenn die Prüfer seiner "soziologischen Abteilung" den Angestellten ordentliche Haushaltsführung attestierten, Nüchternheit und Heiratswillen. Der Magnat, der Detroits Schnapsbrennereien in Fabriken für Biogas verwandeln wollte und persönlich in die Villa seines Sohnes Edsel einbrach, um dessen Getränkevorrat zu zerschmettern, verhängte auch in Fordlândia ein striktes Alkoholverbot. Im dichten Netzwerk aus Restaurants, Spielhallen und Bordellen, die für die Tausenden Zugezogenen rund um die Plantage aus dem Boden schossen, war es allerdings schwer durchzusetzen.

Ja, auch Menschen behandelte Ford mitunter wie Maschinen – ohne sich immer vorher kundig zu machen, wie sie funktionierten. Regelmäßig brachen Angestellte unter der Überdosis der täglichen Chinintablette mit Magenproblemen zusammen und wälzten sich nachts mit Albträumen in ihren amerikanischen Reihenhäusern, zwischen deren verglasten Fenstern und Dächern aus Metall und Asbest die Hitze nicht entwich.

Die Moderne lasst sich ja als eine Utopie radikaler Gleichheit beschreiben: immer wieder das gleiche Teil, das mit den gleichen Werkzeugen im gleichen Tempo zusammengeschraubt wird zu immer wieder dem gleichen Auto, das aus gleichen Werkhallen auf gleichen Straßen zu gleichen Häusern fährt, in denen Menschen wohnen, die die gleichen Produkte schätzen und zur gleichen Zeit aufstehen und schlafen und arbeiten und die gleichen Radiosendungen einschalten. Es ist eine schöne, demokratische Utopie. Nur neigt sie dazu, tatsächlich bestehende Unterschiede zu übersehen und sich in der Folge gegen sich selbst zu wenden – wie in der Revolte von 1930, die auch Santos' Vater erlebte.

Fords Reformationsdrang erstreckte sich auch auf den Speiseplan. Arbeiter wurden gezwungen, in der Cafeteria die Einheitskost aus Weizenfrühstück, Dosenpfirsich und Vollkornreis in Anspruch zu nehmen. Als die Cafeteria begann, das Essen vom Lohn abzuziehen, und auf Selbstbedienung umstellte, schlug die Belegschaft die Amerikaner in die Flucht und Fordlândia in Stücke. Traktoren, Autos und Trucks wurden ins Gebüsch und in den Fluss gerollt, Aktenschränke abgebrannt und die verhassten Stechuhren zerschmettert. Zwei Nächte lang versteckten sich höhere Angestellte, die es nicht rechtzeitig in die Boote geschafft hatten, im Dschungel, bis die Kollegen mit brasilianischen Truppen zurückkehrten. Der Großteil der 5000 Beschäftigten wurde gefeuert, nicht ohne sie vorher auszuzahlen. Nur wenige Hundert bildeten den Grundstock für ein nächstes Fordlândia.

Romualdo Santos' Grab ziert ein einfaches Holzkreuz mit einem Kranz aus Stoffblumen. In der Nähe liegen einige neue Gräber. Insgesamt aber bietet Fordlândias Friedhof ein Bild der Verwüstung: Über die lehmige rote Erde sind die Reste von Gräbern aus fünfundachtzig Jahren verstreut. Auf einer kleinen Anhöhe lehnen Dutzende stählerne Kreuze rostend unter Baumkronen – Restposten aus dem Standardangebot der Ford Motor Company für Arbeiter und Angehörige, die an Gelbfieber oder schlechter Ernährung starben. Spiegeln die Ruinen von Fordlândia den Ordnungswahn ihres Gründers, so spiegelt dieser verwunschene Gegenort die Verwerfungen von Dingen und Menschen, die zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung nötig waren. Hier oben sind sie zur Ruhe gekommen, unter dem Kreischen der Aras und dem Zirpen der Zikaden und mit Blick durch die Büsche auf den Rio Tapajós.

"Ich komme hier manchmal hoch um nachzudenken", erklärt Duca dos Santos. Dabei hat er auch schon Vandalen erwischt, die sich hier oben mit Stahl und Holz für ihre Häuser versorgten. Santos, der in einer Hütte zwischen Hühnern, alten Ventilatoren und 70er-Jahre-Schallplatten von Roberto Carlos und Sergio Reis lebt und nachts in einem Krankenhausbett von Henry Ford schläft, tritt auf wie der Wächter der Vergangenheit, der einen Kampf gegen den Verfall führt, an dessen Aussichten er selbst nicht glaubt. Noch immer schmerzt ihn die Geschichte des Krankenhauses.

Ford, der in den USA ein Netzwerk aus Schulen und Spitälern unterhielt, hatte eigens Ärzte aus seinem Henry-Ford-Hospital in Detroit an den Tapajós bestellt. Bis in die Siebzigerjahre reisten Brasilianer, die es sich leisten konnten, aus dem ganzen Land zur OP nach Fordlândia. "Es war das beste Krankenhaus des Landes", erklärt das andere wandelnde Gedächtnis des Ortes, der 74-jährige Humberto da Silva Porto. Erst 2002 wurde das Spital geschlossen. Seitdem fährt man zwölf Stunden mit dem Schiff zum nächsten Arzt.

Die Bundesregierung schickte Mittel für die Renovierung. Der Präfekt ließ als Erstes das Dach entfernen. Dann war, wie es in Brasilien öfter passiert, das Geld weg. Erst kam der Regen, dann die Vandalen, dann der Dschungel, dessen Gestrüpp nun am Stumpf eines OP-Stuhls nagt, der als letzter Rest eines Zukunftsversprechens unter einem ausgeweideten Gerippe geborstener Balken die Stellung hält. Bis vor wenigen Jahren führten alle Wege hier hoch auf den Hügel am Rand der Siedlung, wo auch Santos' Hütte steht. Heute sieht es hier aus wie am Ende der Welt.

Ein verletzter Stolz schwingt mit, wenn die Älteren vom Krankenhaus erzählen. In einem Ort, der nichts hat als seine Geschichte, pochte es auf die Möglichkeit von Ordnung und Fortschritt, ordem e progresso, wie es auf der brasilianischen Flagge heißt. "Die heutige Generation hat dafür den Sinn verloren", poltert Humberto da Silva Porto, dessen Stimme wie ein langsames Donnergrollen aus der Tiefe eines vergangenen Jahrhunderts dröhnt.

Humberto da Silva Porto stammt aus einer alten Familie von Kautschukbaronen. Sein Onkel Luiz Franco erbte die Siedlung Boa Vista als Junge und sah zu, wie sein Vormund die 4000 Dollar der Ford Motor Company auf den Tisch zählte. Franco habe den Verkauf nie bereut, sagt sein Neffe da Porto. Vor ihm auf dem Gartentisch sind indianische Tonscherben ausgebreitet. Überall liegt hier Vergangenheit rum, aber niemand ist da, sie einzuordnen.

"Es ist typisch", resümiert da Porto finster: "Die Amerikaner bauen etwas auf, und die Brasilianer lassen es zerfallen." Diese Verbündung mit der Vergangenheit gegen die Gegenwart mag man in jedem Dorf der Welt antreffen. In Fordlândia gibt sie aber doch ein bisschen zu denken. Kein negatives Wort ist über die Ford Motor Company zu hören, die hier mit einer unvorstellbaren Menge an Material und Geld eindrang und siebzehn Jahre später alle Seile kappte, um sich nie wieder zu zeigen. Nur das Krankenhaus und der Wasserturm legitimierten im Nachhinein dieses rätselhafte Unternehmen der ungreifbaren Amerikaner, und jetzt ist das Krankenhaus weg.

Oben im amerikanischen Dorf steht noch die Villa, die ständig für die Ankunft Henry Fords bereitgehalten wurde. Immer wieder ging das Gerücht, der "Jesus Christus der Industrie", wie eine brasilianische Zeitung ihn nannte, würde endlich selbst eintreffen und Fordlândias Probleme lösen. Als Charles Lindbergh einen Flug nach Brasilien ankündigte, galt es als ausgemacht, Freund Henry käme mit. Doch der Erfinder des erfolgreichsten Automobils der Geschichte hatte mit wachsendem Alter eine ausgeprägte Technophobie entwickelt, besonders das Fliegen machte ihm Angst. Nie sah der Gründer sein Utopia im Urwald mit eigenen Augen. Dort liegt sein Haus verwaist und verrammelt wie in Spinnenfäden, Symbol für den Phantomschmerz, über den Fordlândia bis heute nicht hinweg ist.

Was suchte Henry Ford wirklich am Rio Tapajós? Die Idee, in den Kautschukanbau zu investieren, entstand aus der Sorge, ein Kartell der Briten und Niederländer könnte die Preise für Kautschuk vervielfachen. Doch als Fords Mitarbeiter 1927 den Kaufvertrag unterschrieben, war das Kartell schon vom Tisch. In Fordlândia fand man eigene Erklärungen. Ja, bestätigt Humberto da Porto, es gebe die Gerüchte, "todo mundo sabe", jeder weiß davon: die Geschichte der Heiligenikonen, in denen Diamanten versteckt und aus dem Land geschmuggelt wurden. Die Sorge, die Amerikaner könnten am Tapajós auf Gold und Diamanten stoßen, ließ schon die Behörden in Belém die Schürfrechte beschränken. Als später in den Sechzigern flussaufwärts in Itaituba ein kleiner Goldrausch ausbrach, wurde auch in Fordlândia gegraben. "Aber da war nichts", stellt Duca dos Santos klar, der dabei war.

Niemand könne die Geschichte mit den Ikonen bestätigen, sagt Humberto da Porto. Aber es gibt sie, sie ist schön, und die Wahrheit, die in ihr steckt, ist wohl eher eine subjektive: das Gefühl, übers Ohr gehauen worden zu sein. Dass jemand Mächtiges kam und sich was holte, das ihm nicht gehörte, und dann, als er es hatte, wieder verschwand. Die Amerikaner haben die Wasserleitungen gebracht, schöne Häuser, eine Schule und ein Krankenhaus, aber etwas haben sie auch mitgenommen. Niemand kann genau sagen, was es ist, aber es fehlt.

Dabei war Fordlândia überhaupt nur aus einem Gefühl des Verlustes geboren. Über die Zwanziger verlor Fords Reformer-Image an Glanz. Mit einer Finte hatte er die Teilhaber aus der Firma gedrängt und die komplette Kontrolle übernommen. Sohn Edsel machte er zum Schattenpräsidenten ohne Entscheidungsgewalt. Die Leitung seines "Service Departments" übernahm ein Haudegen mit Mafiakontakten, dessen Methoden ein Angestellter später mit der Gestapo vergleichen sollte. Gerichtsprozesse zwangen Ford 1927, seine Zeitung "The Dearborn Independent" einzustellen, in der er regelmäßig antisemitische Aufsätze veröffentlicht hatte. Ford, der 1937 den Verdienstorden vom Deutschen Adler annahm, bewahrte seinen Judenhass fortan für sich und enge Freunde. In Fords Fantasien war die jüdische Weltverschwörung daran schuld, dass der Konsumismus das Amerika des hart arbeitenden weißen Farmers verdrängte.

Als 1927 der größte Fabrikkomplex der Welt eröffnete, das River Rouge, in dem der von Sohn Edsel entworfene Model A montiert wurde, packte den Unternehmer endgültig die Abscheu gegen das System, das er selbst geschaffen hatte, und er verlegte sich auf das Sammeln von Antiquitäten. In keinem anderen Bild kommt die Ironie von Fords Leben so zum Ausdruck wie in dem seines Geburtshauses, das einer Bundesstraße weichen musste. Und beispielhaft bewies sich sein Machbarkeitswahn, indem er das Haus kurzerhand in sein eigenes Freilichtmuseum versetzte – zwischen die Fahrradwerkstatt der Gebrüder Wright, die New Yorker Hütte von Edgar Allan Poe und die Labore seines Freundes Thomas Edison, inklusive dem letzten Atemzug des Erfinders, den dessen Sohn in einem Reagenzglas auffing. In diese Idealwelt namens Greenfield Village zog der alte Ford sich zurück, wann er konnte und ließ sich dabei filmen, wie er einen von Pferden gezogenen Mähdrescher lenkte oder an seinem alten Kinderzimmertisch wie einst als Junge Uhren zerlegte.

Greenfield Village und Fordlândia entstanden parallel und erklären sich gegenseitig, als Kopfgeburten eines enttäuschten Pioniers. Greenfield Village war Henry Fords persönliche Vergangenheitsfabrik. Fordlândia sollte dagegen die Zukunft weisen. Und zwar eine bessere Zukunft als die des Konsumismus, der Gewerkschaften, der Börse und des Jazz, in der Sohn Edsel lebte.

Nach der Revolte von 1930 nahm Ford sich persönlich der Lösungsfindung an. Nicht fehlende Arbeitnehmerrechte waren für ihn der Grund für den Gewaltausbruch, sondern Mangel an ausgewogener Lebensführung. Deshalb ließ er in Fôrdlandia zu Tanzabenden mit Charleston und Square Dance bitten. Ließ Filme von Expeditionen vorführen, unter anderem jene, die den Firmenchef mit dem Model T in der amerikanischen Wildnis zeigten. Ordnete an, dass jeder Haushalt einen eigenen Garten anlegte, und ließ aus portugiesischen Übersetzungen Ralph Waldo Emersons vorlesen. Fordlândia war ein Weltentwurf aus einer Hand. Die praktische Umsetzung von Fords Vorstellung eines guten Lebens, projiziert in den Dschungel. Der Fiebertraum eines gealterten Unternehmers, der sich nicht damit zufrieden gab, sich in seine eigene Welt zurückzuziehen, sondern der Überzeugung war, dass diese auch für andere die beste sei.

Unter Fords Experten vor Ort, zu denen inzwischen auch Botaniker zählten, spielten weiterhin auch praktische Erwägungen eine Rolle. 1936 überredete man die Firmenleitung zur Gründung einer zweiten Kautschukplantage gut hundert Kilometer flussabwärts in der Nähe von Santarém, mit einem zweiten Krankenhaus und neuen Reihenhäusern. Die Nähe zur Stadt linderte das Gefühl der Isolation, und der ebene Grund erleichterte Rodung und Pflanzung. Während des Zweiten Weltkriegs wurde hier noch wissenschaftlich Bedeutendes beim Pfropfen von Kautschukbäumen erzielt. Allerdings war inzwischen der synthetische Kautschuk entwickelt.

Belterra liegt an der Bundesstraße 163, die Teil der großen Erschließung des Amazonas in den 70er-Jahren war. An der Ausfahrt wirbt ein alter Ford-Bulldozer für das Dorf. Hier fallen die gepflegten amerikanischen Häuser auf, in denen Nachkommen der Ford-Mitarbeiter wohnen, unter aus Malibu importierten Strandpalmen. In Belterra hat man den Ökotourismus entdeckt. Im Nationalpark FLONA, der heute einen Großteil des alten Ford-Gebietes einnimmt, kann man in Hängematten bei indigenen Familien schlafen, im Kanu Tiere beobachten und Kunsthandwerk aus Kautschuk kaufen. Schautafeln erklären die Geschichte und ein kleines Museum steht Besuchern und Wissenschaftlern offen, mit medizinischen Journalen aus den 30er-Jahren.

In Fordlândia liegt derweil das Interieur der amerikanischen Villen in einem großen Verschlag im Herz des alten Sägewerks und harrt wie in einer Arche auf den Tag, an dem es auch in einem Museum anlegen würde. Das würde die Geschichte Fordlândias vor dem Vergessen bewahren, hofft Lagerverwalter Waldemar Gomes de Aguiar, ein stiller älterer Herr mit Baseballkappe, und zieht einen biblischen Vergleich zu den zwölf Tafeln mit der Geschichte Israels. Bisher sei jeder Versuch am Geflecht der unklaren Zuständigkeiten gescheitert. "Es fehlt am politischen Willen." Erst müsse Fordlândia Stadtrecht bekommen, erklärt de Aguiar, dann könne man Gelder beantragen. Und wenn es ein Museum gäbe, dann kämen auch die Touristen.

Die steigen schon jetzt öfter von den Schiffen, seit 2009 Greg Grandins Buch herauskam. Und es könnten bald mehr werden. Die Präfektur Aveiro, zu der Fordlândia gehört, hat einen frisch gewählten Präfekten. Ranilson Alves do Prado ist in Fordlândia geboren und wohnt in der hinteren Hälfte der alten Cafeteria, durch die einst beim Aufstand die Tabletts flogen. De Prado sieht aus, wie gerade von der Yacht gestiegen. Er setzt sich für das Stadtrecht ein und für die Privatisierung des Bodens. Und er muss jetzt dringend in die Hauptstadt, nach Brasília. Nach Brasília? Wir sind so perplex, dass wir vergessen, von Guilhermes Ladefläche abzusteigen. Wir wollen ein Interview machen. Große Reportage. Wichtige deutsche Zeitung. Uns ist alles wichtig, sagt der Präfekt, aber das sei unmöglich. Sein Flug gehe um Mitternacht und die Straßen nach Santarém seien schlecht, er müsse los.

So übernimmt es Guilherme Lisboa, der bald nicht nur über dreizehn Fremdenzimmer, sondern auch den Grund darunter verfügen könnte, uns das neue Fordlândia zu erklären. Wir sitzen in der Americana Pousada am Abendbrottisch, auf dem die portugiesische Übersetzung von Grandins Buch liegt, bewacht vom Pitbull, der durch den Maschendraht hereinblickt, gießen Cachaça nach, den brasilianischen Zuckerrohrschnaps, und lauschen Guilhermes fantastischen Geschichten aus der Zukunft. Schnellboote würden kommen und Touristen bringen (es verkehrt schon jetzt ein Schnellboot von Santarém, aber es ist meistens kaputt). Frachter würden anlegen am neuen Hafen und Kräne würden Container verladen, die auf Lastwagen über eine neue asphaltierte Straße von den großen Sojafeldern im Süden heranrollen würden. 400 Arbeitsplätze sollen entstehen.

Soja! Ausgerechnet. Wird Henry Fords Traum von gesunder Ernährung und nachhaltiger Entwicklung wahr? Kommt nun, mit siebzig Jahren Verspätung, der Fortschritt an den Tapajós? Mit Großplanung, Monokultur und dem heiligen Korn der Reformer? Soja enthält mehr als dreißig Prozent Eiweiß. Es ist ein ausgezeichneter Nährstoffträger für Tiere wie Menschen. Und es ist leicht in großem Maßstab anzubauen.

Schon hat ein Zusammenschluss von Konzernen das Land für den Hafen gekauft, ein paar Hundert Meter südlich der Lagerhalle. Acht neue Häfen sollen am Tapajós entstehen, um die Lieferwege zu verkürzen. Oben in Itaituba wurden bereits die Fundamente gegossen. Dort sind auch schon Regierungstruppen angereist, um den Bau von Wasserkraftwerken in Gebieten der Munduruku- und der Apiaká-Indianer vorzubereiten.

An der Spitze der Hafeninitiative steht das Unternehmen Cargill. Der größte Getreideexporteur der USA wurde 1865 in Minnesota gegründet und ist im Gegensatz zur Ford Motor Company bis heute in Familienbesitz. Seit 2003 betreibt Cargill einen Getreidehafen in Santarém, von dem aus Soja für Futtermittel nach Europa reist, um in Hühnchenform in deutschen Kühlregalen zu landen. Seitdem sind illegale Rodungen am Tapajós gestiegen.

Cargill arbeitet in wesentlich größerem Maßstab als Ford und plant auch praktischer. Das Unternehmen kauft Soja von Kleinbauern, die oft weder Grundstückstitel besitzen noch roden dürfen. 2006 bremste ein Moratorium die Rodungen, ein neues Forstgesetz beschränkte die landwirtschaftliche Nutzung von Urwaldflächen und die brasilianische Weltraumbehörde installierte ein Satellitenüberwachungssystem. Da sitzen die Mitarbeiter vom Landwirtschaftsministerium dann hinter Monitoren und sehen zu, wie der Rückgang der Wälder neu an Fahrt gewinnt. Die wachsende Nachfrage vor allem aus China hat den Sojapreis verdoppelt. Über die letzten zwölf Monate sind gut 2500 Quadratkilometer Regenwald verschwunden. Das ist etwa ein Fünftel des Gebiets, das Henry Ford 1928 kaufte. Cargill ist übrigens auch führend in der Herstellung von Kunststoff auf Sojabasis. Zu seinen Abnehmern zählt die Ford Motor Company.

Es ist gerade Nacht geworden, als das Schiff ablegt, das uns zurück nach Santarém bringen wird. Wir werfen einen letzten Blick auf die Lichter von Fordlândia, auf den Umriss des Wasserturms, der hoffentlich noch lange frisches Wasser in Ritas Küche pumpen wird, auf die erleuchtete Lagerhalle Albert Kahns und auf Lucas' F-4000, von dessen Ladefläche leise Beats über das Wasser wehen. Dort steht das Schmuckstück und blickt auf den Tapajós hinaus wie all die anderen Vehikel, die nachts auf der ganzen Welt von Heranwachsenden am Rand ihres Reviers geparkt werden, als seien sie Übertragungswagen, die untereinander ein geheimes Funksystem unterhalten. Ein Truck, der nirgendwo hinzufahren hat, mit einer Ladefläche, auf die es nichts zu laden gibt, geparkt vor einer Lagerhalle, in der nichts lagert: In Lucas Varao de Oliveras F-4000 mündet die ganze Geschichte des Automobils, mit seinen Versprechen von Freiheit und Mobilität.

Vielleicht werden einst Leute wie wir mit einem Schiff über die Großen Seen im Norden in die Geisterstadt Detroit reisen. Werden durch die Ruinen des River Rouge streifen und räsonieren über das Zeitalter des Erdöls. Und sich dann wundern, wenn oben in Greenfield Village noch das Licht brennt und ein kleiner Junge mit klugen Falkenaugen eine Taschenuhr zerlegt.

adkv - art cologne preis
für kunstkritik 2012

Will-Grohmann-Preis
der Akademie der Künste 2018