„Man könnte also sagen: Kunst ist nicht frei.“

Sein Blick könnte Leinwände zerschneiden. Doch noch auf die unverschämteste Frage fahren bei Glenn Lowry die Mundwinkel nach oben und dann versteht man, warum die mächtigen Förderer des Museums of Modern Art ihren Mann so lieben. Seit 1995 ist Glenn Lowry Direktor der mächtigsten Institution in der Kunstwelt. Er lebt in einem Turm neben dem MoMA und verdient 1,28 Millionen Dollar im Jahr. Während eines Berlin-Besuchs ergibt sich spontan ein Gespräch. Wie denkt Glenn Lowry über die gesellschaftliche Rolle von Kunst? Welche Kunst kann er nicht ausstehen? Und was machen die Bilder eigentlich mitten in der Nacht, wenn die Leute mit ihren Fotoapparaten nicht mehr da sind?

Welt am Sonntag, 22. April 2012

Herr Lowry, wozu ist Kunst gut?
Kunst kann Sie zum Nachdenken anregen. Sie kann Ihre Art zu leben ändern. Sie ist in keinem praktischen Sinne nützlich. Aber zugleich ist sie so notwendig wie alles andere, gerade weil sie Wege in eine andere Welt bietet.

Wie hat Kunst Ihr Leben verändert?
Auf verschiedenste Arten. Ich dachte ursprünglich, ich würde Biologe oder Arzt werden, aber ich erinnere mich lebhaft, wie ich als Studienanfänger ein persisches Miniaturgemälde sah, in einem Manuskript aus dem 16. Jahrhundert. Es war so verblüffend surreal und schön, dass ich nicht aufhören konnte, darüber nachzudenken.

Wo haben Sie es gesehen?
In einem Seminar zu indischer und islamischer Kunst. Und ich verstand es nicht. Die Farben waren halluzinogen, es erzählte eine Geschichte über mythische Herrscher im Iran, und ich dachte: Wie konnte ich achtzehn Jahre alt werden und nie so etwas gesehen haben? Das weckte buchstäblich den Wunsch in mir, Kunst zu studieren. Es war eine Bauchentscheidung, etwas, das passiert, ohne dass du es merkst. Aber sie veränderte mein Leben.

Erinnern Sie sich an das erste Kunstwerk, das Sie besitzen wollten?
Das erste Kunstwerk, das ich unbedingt haben wollte und nie bekam, war eine Zeichnung von Brice Marden, das muss vor vierzig Jahren gewesen sein.

Was gefiel Ihnen daran so gut?
Die vertrackten Linien, diese außerordentliche Fingerfertigkeit, die Art, wie es eine andere Art Raum evozierte. In meinem ersten Job als Museumsdirektor 1982 versuchte ich erfolglos eine Brice-Marden-Zeichnung zu kaufen. Und ich war so begeistert, als ich schließlich ans Museum of Modern Art kam, wo wir eine großartige Sammlung seiner Gemälde und Zeichnungen haben. Es war wie in ein Zuhause zu kommen, von dem ich früher nur träumen konnte.

Gehen Sie nachts alleine durchs Museum?
Ständig. Fast jeden Tag.

Aus persönlichem Interesse oder aus professionellem?
Beides. Ich lernte sehr früh von einem Direktor, dass die einzige Möglichkeit um sicherzustellen, dass alles so funktioniert, wie es soll, ist, die Räume abzugehen so oft man kann. Ich gehe also durch und stelle mir Fragen: Sind die Fußböden sauber, funktionieren die Lichter, hängen die Schilder gerade, vermittelt die Hängung ihre Botschaft? Und persönlich denke ich: Das sind die unglaublichsten Kunstwerke, die es gibt, und ich habe sie gerade alle für mich alleine.

Nachts.
Auch. Aber eher frühmorgens.

Nach dem Workout?
Ich fahre Fahrrad, im Central Park.

Aber nachts, wie darf man sich da die Atmosphäre vorstellen?
Es herrscht eine ganz besondere Art von Stille in einem Raum mit Kunstwerken, die einen fast hören lässt, wie die Objekte sich untereinander unterhalten.

Was war das letzte Gespräch zwischen Kunstwerken im MoMA, das Sie belauscht haben?
Das letzte war in der aktuellen Cindy-Sherman-Ausstellung. In einem Raum unternehmen wir eine Art Überblick über ihre ganze Karriere. Die Fotos betrachten sich regelrecht, und es wirkte, als würden sie sagen: Habe ich das wirklich erlebt? Bin ich wirklich diese Künstlerin geworden?

Erinnern Sie sich an ein Gespräch zwischen völlig verschiedenen Kunstwerken aus der Sammlung?
Wir haben kürzlich eine sehr wichtige Gruppe Minimalismus und Konzeptkunst aus der Sammlung Nicole und Herman Daled erworben. Da gibt es einen wunderbaren Moment, wo sich einige Arbeiten von Marcel Broodthaers neben einem Raum mit Daniel Burens Stoffarbeiten finden. Und die sagten zueinander: Ich kann echt nicht glauben, dass wir beide hier gelandet sind!

Beide Künstler übten einen sehr kritischen Blick auf die Kunst, vor allem auf Institutionen.
Besonders Broodthaers, der das Wesen des Museums hinterfragte. Und Buren, der die Grundlagen des Kunstwerks selbst infrage stellte. Beide kommen von sehr unterschiedlichen Praxen. Und hier waren sie beide beieinander, Waffenbrüder im Museum of Modern Art.

Ist das ein Sieg für die Institution?
Es ist ein Sieg der Künstler. Was sie vor vierzig Jahren dachten, verstehen wir jetzt. Institutionen reagieren oft langsam. Wir brauchen lange, um uns durch Probleme zu tüfteln, die Künstler oft sofort verstehen.

Über die Zeit gesehen scheint es, als könnten Museen alles verdauen. Können Sie sich Kunst vorstellen, die das Kunstsystem nicht vertragen würde?
Es gibt Grenzen, die Institutionen in eine unangenehme Lage bringen können. Zum Beispiel Formen Transgressiver Kunst, in denen es darum geht, andere Kunst zu zerstören. Was ich von einem ethischen und moralischen Standpunkt aus derart untragbar finde, dass ich mir schwer Umstände denken kann, unter denen das Akzeptanz finden könnte.

Alexander Brener hat mal das "Weiße Quadrat" von Malewitsch übermalt.
Für mich ist das eine problematische Geste. Es gibt natürlich eine lange Tradition Transgressiver Kunst. Nehmen Sie Robert Rauschenberg, der einen de Kooning ausradierte. Aber Willem de Kooning war eingeweiht, das ist eine ganz andere Geschichte.

Welche Gefahr geht von Kunst aus, die Zerstörung beinhaltet?
Zunächst gibt es ein ethisches Problem: ob ein Künstler das Recht hat, das Werk eines anderen Künstlers zu zerstören. Das nächste ist die Frage, wie man destruktive Akte lizensieren möchte, sodass ein Museum sie anerkennen kann. Eine künstlerische Praxis anzuerkennen, die ethisch problematisch, wenn nicht abstoßend ist, wäre für ein Museum sehr schwierig.

Man könnte also sagen: Kunst ist nicht frei.
Ich würde es so sagen: Freiheit geht auf Kosten von Verantwortung.

Ein leichteres Thema: Wenn Sie tagsüber durch das Museum gehen, was denken Sie über die Besucher, die alles fotografieren: die Kunstwerke, sich selbst vor den Kunstwerken?
Ist das so anders als Adlige auf Bildungsreise, die Bilder von sich neben der Sphinx haben wollten? Als Menschen möchten wir die Erinnerungen produzieren und festhalten, die für uns bedeutsam sind. Und wenn Menschen ihre Erfahrung im Museum so bedeutsam finden, sagt uns das etwas Tiefgreifendes.

Wie viele Besucher waren letztes Jahr im MoMA?
Etwa drei Millionen. 2,85 Millionen.

Glauben Sie, es würden auch so viele kommen, wenn Fotografieren verboten wäre?
Ich glaube nicht, dass das eine etwas mit dem anderen zu tun hat.

Man könnte das Fotografieren im Museum durchaus noch einfacher machen. Etwa mit Glas, das nicht reflektiert, oder mit Fotowänden, bei denen man sein eigenes Gesicht in die Mona Lisa stecken kann.
Ich wüsste nicht, dass wir über nicht-reflektierendes Glas nachdenken. In einer idealen Welt bräuchte es keine Blitze. Denn die sind es, die im Museum stören. Ich bin sicher, dass wir irgendwann Kameras haben werden, die so sensibel sind, dass sie keine Blitze brauchen.

Was machen Sie in Berlin?
Ich bin heute Morgen gekommen, weil ich die Gerhard-Richter-Ausstellung sehen wollte, die faszinierend war. Wir hatten vor zehn Jahren eine große Richter-Retrospektive, da ist man ständig am Vergleichen. Die letzten zehn Jahre waren wirklich interessant und produktiv für Gerhard. Die Neue Nationalgalerie bietet einen fantastischen Hintergrund um seine Karriere nachzuvollziehen, und es ist eine erstaunliche Karriere ...

Es tut mir leid, aber wir haben hier in letzter Zeit schon so viel über Gerhard Richter gesprochen, dass ...
Wissen Sie, es gibt gute Gründe, über ihn zu sprechen.

Na gut, ich will sie hören.
Er ist einer der wichtigsten Künstler seiner Generation, vielleicht des 20. Jahrhunderts. Und es gibt immer noch viel zu lernen, wenn man Gerhards Arbeit betrachtet und darüber nachdenkt.

Was ist das Wichtigste, das Sie von Gerhard Richter gelernt haben?
Was mich an Gerhard interessiert, ist die Art und Weise, wie er das Bild an sich problematisiert und die Unsicherheit dessen, was wir zu wissen glauben. Und ich glaube nicht, dass ein Künstler das geist- und erfindungsreicher getan hat als Gerhard, und das über eine so lange Zeit.

Das MoMA zeigt dieses Jahr viele politische Positionen: Cindy Sherman, Diego Rivera, Mark Boulos ... Lenken Sie gerade einen Fokus auf soziale Themen?
Es gibt kein bewusstes Programm dafür. Aber die meisten wichtigen Künstler befassen sich irgendwann mit großen Themen. Die Rivera-Ausstellung zeigt die acht Fresken, die er 1932 malte, als er seine erste New Yorker Ausstellung im Museum of Modern Art hatte. Sie handeln alle auf ihre Art von sozialer Gerechtigkeit, Revolution und den Mühen der Arbeit. Spricht es nicht für Riveras Bedeutung, dass die Probleme, die er vor genau achtzig Jahren beleuchtete, die gleichen sind, vor denen wir noch heute stehen?

Ich möchte zum Abschluss ein Spiel vorschlagen: Ich lese kritische Urteile über den Kunstbetrieb vor und Sie sagen in ein bis zwei Sätzen Ihre Meinung.
Ich bin heute um fünf Uhr aufgestanden, Sie verlangen viel von mir.

Kunstproduktion ist heute weniger durch die Interessen von Künstlern bestimmt als durch die Interessen von Kuratoren und Sammlern.
Das glaube ich nicht.

Die Arbeit von Kuratoren ist weniger durch die Interessen von Kuratoren bestimmt als durch die Interessen von Institutionen.
Es gibt verschiedene kuratorische Praxen. Es gibt freie Kuratoren, die in verschiedenen institutionellen Zusammenhängen arbeiten, von kleinen Off-Spaces über große Biennalen bis zu Museen. Und es gibt die Kuratoren in großen Institutionen. Diese Praxen stehen in dynamischem Verhältnis zueinander. Ich denke nicht, dass Institutionen der einzige Antrieb für kuratorische Arbeit sind.

Das Kunstsystem ist eine hierarchische Struktur und an der Spitze der Pyramide steht das MoMA.
(überlegt lange) Alle Systeme haben eine Hierarchie, das ist die unvermeidliche Konsequenz der Art, wie Systeme operieren. Sie haben ihre inneren Codes und Strukturen. Unser Ziel ist es, so intensiv wie möglich über die Kunst nachzudenken, welche wir für die bedeutendste halten, und unser Bestes zu geben, um Kunst zu sammeln, sie zu interpretieren und uns mit den Künstlern auszutauschen. Wenn wir damit bislang sehr erfolgreich waren, dann soll das wohl so sein.

Das Kunstsystem stützt die Teilung zwischen Arm und Reich.
Natürlich ist etwas Wahres daran, dass die Fähigkeit Kunst zu erwerben oft Reichtum widerspiegelt. Aber im europäischen Modell und, wie ich hoffe, auch im amerikanischen, geht es um den Versuch sicherzustellen, dass jene, die keine Kunst kaufen können, sie dennoch sehen und darüber nachdenken können. Selbst das Galeriesystem als Mechanismus für den Kauf und Verkauf von Kunst steht der Öffentlichkeit offen. Wenn man es so zuspitzt, übergeht man die Komplexität einer Kunstwelt, die aus einer riesigen Zahl von Akteuren besteht.

Der Eintritt ins MoMA kostet 25 Dollar.
Stimmt, weil wir keine Regierungszuschüsse bekommen. Wenn Sie es leicht anders betrachten, schießen unsere Trust-Mitglieder fünfzig Prozent der Kosten für den Eintritt zu. Und jeden Freitagnachmittag stehen unsere Türen umsonst offen.

Kritische Kunst ist voll versteckter Scheinheiligkeiten: Wir sehen eine Videoarbeit von Mark Boulos, die Ölkonzerne kritisiert, aber wir können sie nur sehen, weil wir mit deren Öl zur Ausstellung geflogen sind.
Wir leben in einer Welt voller Ironien und Widersprüche.

adkv - art cologne preis
für kunstkritik 2012

Will-Grohmann-Preis
der Akademie der Künste 2018