O Freunde, nicht diese Töne!

"Kinshasa Symphony": In einer der ärmsten Städte der Welt spielt ein Orchester auf selbstgebauten Instrumenten Händel, Bach und Beethoven. Zwei deutsche Regisseure schufen einen bewegenden Dokumentarfilm. Reise zur Premiere im Kongo

Welt am Sonntag, 29. August 2010

Noch fünf Minuten bis Vorstellungsbeginn, die Gäste haben lange Platz genommen, gespanntes Murmeln füllt den Festsaal des „Hotel Venus“, eines der wenigen Nobelhotels in der Demokratischen Republik Kongo, da kommt ein Mitarbeiter zum Regisseur: „Diese DVD funktioniert nicht.“

Claus Wischmann reagiert, wie er es gelernt hat während seiner Arbeit in Kinshasa: erst mal gar nicht. Er guckt auf den Witz von tragbarem DVD-Spieler in den Händen des Mitarbeiters. Guckt auf den Mitarbeiter. Guckt ins Leere.

Über ein Jahr lang hat Wischmann mit dem Kameramann Martin Baer die Arbeit des wahrscheinlich unterfinanziertesten Orchesters der Welt verfolgt: des Orchestre Symphonique Kimbanguiste von Kinshasa. 200 Autodidakten und Amateure, die auf gebrauchten oder selbst gebauten Instrumenten Händel, Orff und Verdi spielen. Die Filmemacher haben Proben in völliger Dunkelheit erlebt, wenn wieder einmal der Strom ausfiel. Das Ringen um Konzentration nach dem täglichen Kampf um das Allernötigste. Das hartnäckige Abmühen an deutschen Umlauten („Alle Menschen werden Brüder“). Nun sind sie zurückgekommen, um den Musikern den fertigen Film zu zeigen.

Im Februar hatte „Kinshasa Symphony“ auf der Berlinale Premiere. Am 23. September kommt die ARD-Produktion in die deutschen Kinos. Aber die eigentliche Premiere findet hier statt: im Kongo, vor den Protagonisten selbst. Wischmann und Baer sind nervös. Wie werden die Musiker über das Bild denken, das sich die Deutschen von deren Arbeit gemacht haben? Haben sie den nötigen Respekt gewahrt? Haben sie die Probleme vielleicht doch zu drastisch dargestellt?

Proben in völliger Dunkelheit

„Kinshasa Symphony“ eröffnet mit einer Probe im Freien, die durch einen Kabelbrand unterbrochen wird. Das ist lustig, kann man jetzt aber nicht sehen, denn es gibt nicht einmal eine Leinwand. Die Musiker werfen ungeduldige Blicke auf ihre Handys. Und wer hat’s verbockt? Die deutsche Entwicklungshilfe. Kinshasas Kinos sind nämlich alle kaputt. Darum hat der deutsche Friedensfonds eigens diesen Raum gemietet. Nur die richtige Technik wurde vergessen. Da ist dann allerdings der Friedensfonds-Leiter in seinem Element, Dr. Hans Hagen, ein echter Sheriff-Typ. Er öffnet eine Tür in der hintersten Ecke des Saals, tritt auf einen Hof voller Gerümpel, kommt mit vier Latten und einem Stück Stoff zurück und zimmert eine Leinwand. Eine halbe Stunde später läuft auch die DVD.

Willkommen in Kinshasa, der Hauptstadt des improvisierten Lebens. Hier wirtschaftet jeder nur auf Sicht: die Händler, die am Abend gerade genug übrig haben, um am nächsten Morgen neue Ware zu kaufen; die Politiker, die nach dem nächsten Vorteil ausschauen; und die ausländischen Experten, die den Eindruck wahren müssen, sie könnten hier irgendwas richten.

Steineklopfen am Straßenrand

Die belgischen Kolonialherren hatten die Hauptstadt des Kongo einst für 200 000 Einwohner geplant. Nach den Kriegen, die den Rest Infrastruktur verwüsteten, der nach 40 Jahren Mobutu-Kleptokratie noch übrig war, drängen sich hier heute fast zehn Millionen, ohne Kanalisation, ohne öffentlichen Nahverkehr, ohne Müllabfuhr, ohne Feuerwehr. Wegen der niedrigen Importzölle gibt es kaum produzierendes Gewerbe, überleben lässt sich nur mit kleinen Dienstleistungen in der langen Reihe der Zwischenhändler. Wer gar nichts hat, geht Steine klopfen am Straßenrand.

Erst denkt man: Alles klar, hier funktioniert ja gar nichts. Und dann gibt es zum Beispiel ein Symphonieorchester.

Claus Wischmann hat schon viele Klassikdokumentationen gedreht. Aber diese Geschichte war bei Weitem die unglaublichste, die ihm bislang untergekommen ist.

Als das Orchestre Symphonique Kimbanguiste 1994 gegründet wurde, war Diktator Mobutu noch an der Macht. Es gab vier Violinen, man probte rotierend. Der erste Kontrabass wurde vom Orchesterdirektor persönlich zerlegt – um nach seinem Muster neue zu bauen. Wenn wieder plündernde Banden durch die Stadt gezogen waren, wurde von vorne begonnen. Wenn Bögen rissen, nahm man Angelleinen. Wenn Saiten fehlten, spielte man auf Fahrradbremszügen. Wenn eine Glocke fehlte, fand man die Felge eines Taxibusses mit dem richtigen Ton.

„Sie nennen es die Ode an die Freude. Für mich ist es einfach ein schönes Lied.“

Viele der Musiker haben mehrere Jobs und verbringen täglich bis zu drei Stunden im Sammeltaxi oder zu Fuß. Und sind trotzdem jeden Tag um 17 Uhr bei der Orchesterprobe.

„Wenn ich traurig bin, höre ich Mozarts Requiem“, sagt Tenor Trésor Wamba, 24.

„Wenn ich nachdenken muss, höre ich Bach-Choräle“, sagt Elektriker und Bratschist Joseph Lutete.

„Sie nennen es die Ode an die Freude“, sagt Sopranistin Mireille Kinkina. Schulterzucken. „Für mich ist es einfach ein schönes Lied.“

Auf einmal fällt von Beethovens neunter Symphonie aller Deutungsballast ab, und dem europäischen Publikum tritt das eigene kulturelle Erbe noch einmal neu entgegen.

„Kinshasa Symphony“ verfolgt die Arbeit an der Neunten für ein großes Freiluftkonzert. Der Dirigent hatte gedacht, die Deutschen würden einfach die Proben filmen. Das reicht nicht, erklärten die. Erst wenn man den Alltag der Musiker miterzähle, würde verständlich, was sie da leisten. So wurde „Kinshasa Symphony“ nicht nur ein Film über ein Orchester, nicht nur einer über Musik und verblüffende Hingabe, sondern auch einer über eine faszinierende, irritierende Stadt.

„Kinshasa siehst du nicht. Du hörst es.“

Zwei Tage vor der Premiere, eine Einladung im Haus des Dirigenten. Die Fahrt führt vom bewachten Hotel über den Boulevard des 30. Juni, wo Reklame zögerlich von ausländischem Kapital kündet, vorbei am Kulturpalast aus der Mobutu-Zeit, frisch saniert für die Feiern zum 50. Unabhängigkeitstag. Vorbei an einem Armeecamp auf einer Brache mitten in der Stadt, vorbei an einem ehemaligen Friedhof, auf dem sich Frauen über Gemüsegärten bücken. Der Wagen schaukelt durch Schlaglöcher, weicht Lastkarren aus, passiert Zigarettenverkäufer, Träger, Kinder, die sich an den Abwassergräben waschen, und schließlich einen mannshohen Müllberg, der die ganze andere Straßenhälfte einnimmt. Die Straße selbst besteht aus trockener, schwarzgrauer Erde mit Stücken von Folie und Plastikflaschen.

„Kinshasa siehst du nicht“, sagt der Rocksänger Jupiter in einer Dokumentation über die unkaputtbare Musikszene der Stadt. „Du hörst es.“ Er hat recht. Die Stadt ist ein mäandernder, polyphoner Rhythmus, strukturiert von den Erkennungssignalen der umherstreifenden jugendlichen Händler: das synkopische Klackern der Schuhputzer. Das Zwitschern der Wasserverkäufer. Das Schnarren gegeneinandergeschlagener Fläschchen der Manikürejungen. Kinshasa ist ein akustischer Raum, und die Schönheit seines Klangs verdankt sich gerade den dämpfenden Eigenschaften des allgegenwärtigen Müllteppichs und den dünnen Wänden aus Beton oder rostendem Wellblech, durch die die Geräusche zahlreicher Familien nach draußen plätschern.

In der Rue Monkoto im Stadtteil Ngiri-Ngiri mischen sich vertraute Töne hinein: zaghafte Trompetenstöße. Das Hoftor wird geöffnet. Zwischen verbeulten Bussen sitzen übende Kinder vor Schultafeln mit Noten, um ihre Beine rennen Hühner. Eine Frau schläft auf einem Stuhl in eine Decke gewickelt (es ist Winter in Kinshasa, 32 Grad). Das Anwesen des Dirigenten ist zugleich Musikschule, Autowerkstatt und Kirche.

Armand Diangienda ist nämlich ein Enkel des Religionsstifters und Märtyrers Simon Kimbangu. Kimbangu trat in den Zwanzigern als Wunderheiler auf, las die Bibel farbneutral und verkündete die Befreiung von den belgischen Unterdrückern und die Gleichheit der Rassen: „Der Schwarze wird weiß, der Weiße wird schwarz.“ Man könnte auch sagen: Alle Menschen werden Brüder.

1951 starb Simon Kimbangu nach drei Jahrzehnten Haft im Gefängnis in Élisabethville (heute Lubumbashi). Die Kimbanguisten bilden im Kongo die größte Religionsgruppe nach den Katholiken. Kimbangus Erben liegen untereinander im Streit, doch davon wird vor den Besuchern nicht gesprochen. Diangiendas Vater baute die Kirche, in der dieser heute mit seiner Familie lebt, mit Klimaanlage und Flachbildfernseher, an dem die Kinder Nintendo spielen. Sein Vater war es auch, der Diangienda, als der nach einer Pilotenausbildung arbeitslos wurde, anwies, das Orchester zu gründen. Erst spielte Diangienda das Cello. Als dann einmal der Dirigent ausfiel, sprang er ein – und hatte seine Rolle gefunden.

Den Feinschliff sah er sich bei Konzertübertragungen im Fernsehen ab und bei Workshops in Paris. Beethoven zu spielen sei für das Orchester eine große Herausforderung gewesen, sagt Kirchenchef Diangienda, „ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu unseren eigenen Werken“. Eigenen Werken? Das sagt er jetzt so nebenbei. Die größten Errungenschaften europäischer Hochkultur, sind sie nur ein Durchlauferhitzer, eine Fingerübung auf dem Weg zu Größerem?

Ja, der Kirchenchef schreibt seine eigenen Symphonien, eine hat er schon in Frankreich mit einem Studentenorchester aufgeführt. Sie beruht auf dem Rhythmus, den die Benzinverkäufer mit Stöcken auf ihre Kanister klopfen.

Ein anderes von Diangiendas Stücken ist am Folgetag bei einer öffentlichen Probe zu hören, nach Verdi, Dvorak, Händel und Bizet, eher eine Leistungsschau als eine Probe. Ein feierlicher, synkopischer Wechselgesang zwischen Männern und Frauen in ihrer Landessprache Lingala, treibend und, was den Aufbau angeht, unverkennbar afrikanisch, eher repetitiv als räumlich.

Diangienda hat „Kinshasa Symphony“ bereits auf der Berlinale gesehen. Es sei ein guter Film, gesteht er zu. Durch ihn habe er selbst erst die Hintergründe vieler Musiker kennengelernt. Dabei ist klar: Etwas weniger Armut hätte es für ihn auch getan. Immerhin: „Jetzt weiß ich endlich, warum viele so oft zu spät kommen.“

Im Kongo spricht man nicht über Probleme

Querflötistin Nathalie Bahati etwa. Sie kämpft im Film mit den Tränen, wenn sie erzählt, wie ihr Freund sie verließ, sobald sie schwanger war. Man folgt ihr bei der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung für sich und ihren Sohn und landet in einer engen Baracke ohne Türen. Aus den Augen ihres Jungen blickt einen die Zukunft des Landes an. Die Hälfte der Kongolesen ist unter siebzehn. Niemand im Orchester wusste von Bahatis Schwierigkeiten. O Freunde, nicht diese Töne! Im Kongo spricht man nicht über Probleme.

Wenn Baer und Wischmann ihre Kamera an einer Straßenecke aufstellten, um etwa Joseph Lutete mit seiner Bratsche in Szene zu setzen, wurden sie sofort von allen Seiten angebrüllt. Wenn sie eine Kamerafahrt aus dem fahrenden Auto drehten, wurden sie von draußen beschimpft. Einmal wurden sie diskret gebeten mitzukommen. Und fanden sich in einem Büro des Geheimdienstes.

Wer seid ihr, was wollt ihr, ihr sucht doch nur die schlechten Seiten: Es gibt im Kongo ein ausgeprägtes Bewusstsein für Weiße, die mit der Armut der anderen Geld verdienen. Dazu gilt noch immer das generelle Fotoverbot, das Mobutu einst verhängte, damit die Welt nicht sieht, was er und seine Anhänger aus ihrem Land gemacht hatten.

Das Einzige, was half, war, in jedem Viertel beim Polizeichef vorzusprechen; und Zeit, ganz viel Zeit. „Manchmal verbrachten wir einen halben Tag an einer Straßenkreuzung“, erzählt Wischmann. In der Regel legte sich die Aufregung, wenn die Filmemacher erklärten, dass sie das Land mal von einer anderen Seite zeigen wollen: Ach, ihr dreht einen Film über unser Orchester? Ich kenne jemanden aus dem Chor. Filmt mal mich!

Vereinnahmungen sind unvermeidbar

Bislang kam in Radio und Fernsehen klassische Musik nicht vor. Doch das Orchestre Symphonique Kimbanguiste wird inzwischen mit Stolz wahrgenommen, als Ausdruck von Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit. Klar, dass es auch schnell zur Lieblingsgruppe von Botschaftern und Diplomaten wurde. Zum Unabhängigkeitstag trat das OSK im Französischen Kulturzentrum auf. Da hätten die Musiker gerne nur traditionelle kongolesische Musik gespielt, aber auf Wunsch des Gastgebers gaben sie auch ihren größten Hit, die „Carmina Burana“.

Solche Vereinnahmungen sind unvermeidbar: In einem Land ohne staatliche Kulturpolitik ist das kulturelle Leben von Botschaften und Kirchen organisiert. Einen funktionierenden Musikmarkt gibt es nicht. Deshalb blicken hier alle nach Europa, auch das OSK. Doch gegen die Beschaffung der Visa für 200 Menschen, unter denen es manche mit gutem Grund gäbe, den Rückflug sausen zu lassen, ist das Studium der neunten Symphonie ein Witz. Zur Berlinale durften sechs.

„Alle anderen Bands in Kinshasa trennen sich nach zwei Jahren wegen Geldfragen“, sagt Diangienda. Im OSK ist deshalb von vornherein klar, dass es nichts zu verdienen gibt. Das Orchester ist eine Art Gemeinde in der Gemeinde, mit kleiner Stiftung. Wenn jemand eine Schneiderwerkstatt gründen will oder die Schulgebühren für seine Kinder nicht bezahlen kann, wird ausgeholfen. Und wenn Uniformen gebraucht werden, zahlen die Vermögenderen für die Ärmeren mit.

Jeder hier betont: Es ist der Glaube an den Kimbanguismus, der das Orchester zusammenhält.
Auf der Straße begegnen wir dem Pastor der Kirche, Gabriel Nzao Ngoma. Er predigt auch im Fernsehen. Stimmt es, was Armand Diangienda im Film behauptet: dass die Prophezeiungen Simon Kimbangus sich erfüllt hätten?

„Selbstverständlich“, sagt der Pastor. „Kimbangu sagte, die Kolonialherren würden gehen. Sehen Sie sich um. Der Kongo ist unabhängig.“

Sehen wir uns also um. Ich bin ja neu hier, aber ein bisschen was habe ich über den Kongo schon gelernt. Er ist das rohstoffreichste Land Afrikas, aber eins der ärmsten der Welt. Gerade hat sich China Schürfrechte an Diamantenvorkommen auf 25 Jahre gesichert, gegen ein paar Straßen und Krankenhäuser. Die UN schützen die provisorische Demokratie mit ihrer größten Friedensmission. Der Großteil der Mittel fließt dabei zurück in die Wirtschaften der Geberländer.

Am Vormittag fuhren wir mit Friedensfonds-Leiter Hans Hagen Jeep. Seine Mission: für die Bundesregierung 50 Millionen ausgeben, möglichst schnell, möglichst sichtbar (immerhin in Abstimmung mit zivilen Initiativen). Am Ende einer langen Fahrt durch staubige Straßen präsentierte er das jüngste Projekt: ein bewässertes Fußballfeld und ein instand gesetztes Schwimmbad auf dem Universitätsgelände über der Stadt. Das Entsetzen der Journalisten hat den Entwicklungshelfer doch irritiert.

Drei Viertel der Kinder sehen nie eine Schule von innen: Der Kongo ist der letzte afrikanische Staat ohne kostenlose Grundschule.

„Herr Ngoma, ist das Unabhängigkeit?“ Der Pastor holt tief Luft. Das war jetzt natürlich eine unverschämte Frage. „Es gibt drei Arten von Unabhängigkeit: die politische, die wirtschaftliche und die geistige. Die geistige ist die wichtigste. Geistig sind wir unabhängig. Die Menschen kommen jetzt aus aller Welt nach Afrika, denn hier findet die spirituelle Erneuerung statt.“ Das beste Beispiel sei das Orchester.

"Hier findet die spirituelle Erneuerung statt.“

Hier stehe ich auf einer Straße aus Müll und kann vor diesem Optimismus nur das Haupt senken. Das ist die Kraft, mit der der Chor die „Ode an die Freude“ schmettert: Alle Menschen werden Brüder.
„Warum interessierst du dich so sehr für Politik?“, fragt Hornist Edi Wamba.

Gegenfrage: Warum hängt bei dir das Porträt eines Mobutu-Sohns an der Wand? „Mobutu war ein guter Präsident. Als er an der Macht war, gab es keine Kriege.“

Wamba ist Fernsehmoderator.

Erkämpften die Kimbanguisten einst die Emanzipation von den Kolonialherren, wandten sie sich unter Mobutu von der Politik ab. Auch in den Texten des populären Soukous nehmen in den letzten Jahren religiöse Durchhalteparolen zu. Politik ist hier einfach nicht das Feld, von dem Veränderung erwartet wird. Die muss man schon selber machen.

Religiöse Durchhalteparolen nehmen zu

Ein Paradebeispiel für kongolesischen Überlebenswillen ist der Elektriker Joseph Lutete. 1996 kam er vom Land nach Kinshasa, zog bei Diangienda ein und lernte die Bratsche. Jeden Nachmittag vor der Probe legt Joseph Lutete ein Kabel von der Kirche über die Straße und schließt die Beleuchtung des Probesaals an. Immer wenn die Technik ausfällt, lässt er die Bratsche liegen und zückt den Schraubenzieher.

Als Elektriker verdiente Lutete so viel, dass er ein kleines Stück Land kaufen konnte, auf dem er Maniok, Erdnüsse und Gemüse anbaute. Den Gewinn investierte er in Klamotten aus China und eröffnete einen Kleiderladen. Als der nicht lief, wandelte er ihn zum Friseursalon um. Heute hat Joseph Lutete drei Angestellte, seine Verlobte eingerechnet, und verdient im Monat 350 Dollar. Das kongolesische Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 116 Dollar im Jahr.

An der Fassade des Salons steht der Name: „Chez Gutenberg“. Gutenberg? „Das ist ein deutscher Erfinder.“ Lutetes Onkel studierte in Deutschland, als erster Kongolese mit Auslandsstipendium, und weil er so überraschend klug war, nannten ihn die Professoren Gutenberg. „Später nannte er mich auch so, weil ich so viele Ideen hatte.“ Zuletzt investierte Lutete in ein Auto und ist damit nicht mehr nur Elektriker, Friseur und Landwirt, sondern auch Taxiunternehmer. Im August ist die Hochzeit geplant. Das Paar will in Ngiri-Ngiri bleiben, ziehen doch viele extra in das Viertel, um schneller bei den Proben sein zu können.

An der Wand Britney Spears, im Fernseher András Schiff

Zwölf Quadratmeter misst der Salon. In einem ausgebeulten Karton steht ein Strauß Stofforchideen, an der Wand hängen Bilder von Britney Spears und Michael Jackson und ein Riesenposter einer Villa mit Ferrari in der Garage. „Das Plakat ist gut für meine Kunden“, erklärt Lutete. „Das macht sie zufrieden, wenn sie warten müssen.“ Auf dem Fernseher spielt derweil András Schiff die „Haffner-Symphonie“.

Hört man Joseph Lutete zu, hat man irgendwann den typischen schwäbischen Kleinunternehmer vor sich: freundlich, fleißig und ein bisschen humorbefreit. Überhaupt treten, je länger man hier ist, die Unterschiede immer mehr in den Hintergrund. Wenn Armand Diangienda über Logistikfragen spricht oder über ein geplantes Workshop-Programm, klingt er wie jeder Leiter eines europäischen Amateurorchesters.

Letztlich ist es in Kinshasa wie überall: Jeder macht das Beste aus dem, was da ist.

Womit wir wieder bei Claus Wischmann und Martin Baer wären und bei der Vorführung im Festsaal des „Hotel Venus“. Wie blickt man von hier auf die Arbeit der Filmemacher?

Mit Genuss. Gleich am Anfang des Films, als der Strom ausfällt, bricht schallendes Gelächter los. Kein Halten, als eine chaotische Straße von oben zu sehen ist. Überhaupt: Die Musiker lachen über alles, was schiefläuft. Hin und wieder gibt es Szenenapplaus, bei den Chorszenen wird mitgesungen. Es hat eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die Musiker, ihre sechzehnjährige Arbeit auf der Leinwand gewürdigt zu sehen, durch den Blick von Europäern. Und „Kinshasa Symphony“ ist wirklich ein außergewöhnlicher Film, mit der empathischen Kamera Martin Baers und dem lakonisch pointierten Schnitt Wischmanns, mit der Ruhe, in der er liebevoll all die kleinen Zwischenfälle einfängt und die Blicke der Protagonisten, in denen sich Dramen abspielen. Zum Höhepunkt gibt es von 3000 klassikfernen Zuhörern Standing Ovations für die „Carmina Burana“.

Im Saal fällt der Schlussapplaus dann allerdings erstaunlich zurückhaltend aus. Tenor Trésor Wamba klatscht gar nicht. Weil er geweint hat, sagt er hinterher. „Der Film macht mich traurig, weil er mich daran erinnert, was für ein großes, reiches Land der Kongo ist und wie schlecht sein Zustand.“ Doch, der Film sei gelungen. „Claus und Martin sollten die Realität einfangen. Das haben sie geschafft.“

Trésor Wamba würde übrigens gerne Film studieren. In Deutschland.

adkv - art cologne preis
für kunstkritik 2012

Will-Grohmann-Preis
der Akademie der Künste 2018