Regeln für den Menschenzoo

Die Idee von der Überlegenheit der weißen Rasse wurde in Menschenzoos und Völkerausstellungen geprägt. Eine Pariser Ausstellung wirft Licht auf die Fundamente der "Ersten Welt".

Welt am Sonntag, 19. Mai 1012

1774 landete der Tahitianer Omai mit einem Schiff James Cooks in London. Als erster Bewohner der pazifischen Inseln, der Europa besuchte, wurde er der Königsfamilie vorgestellt, in der feinen Gesellschaft herumgereicht und war bald ein geschätzter Tänzer auf Empfängen. Allein der Englischunterricht wurde von seinem Betreuer, dem Aufklärer Georg Forster, vernachlässigt. Als ihm Omai, der sich auf geschmackvolle Kleidung verstand, zu teuer wurde, setzte Forster ihn 1776 auf das nächste Schiff von Cook nach Tahiti und ließ ihn dort mit Luxusgütern und einem englischen Landhaus zurück. Omai starb zwei Jahre später.

1810 überschlugen sich die Londoner Zeitungen vor Aufregung über das enorme Hinterteil der Südafrikanerin Saartje Baartman, die der Bure Hendrick Caezar als "Hottentot Venus" in Piccadilly 10 ausstellte. Nachdem ein Gericht die Vorführung als Sklavenhandel untersagte, tourte Baartman durch die Provinz und geriet 1815 nach Paris, wo sie im Jardin des Plantes nackt vor Ärzten, Anatomen, Grafikern und Schaulustigen posierte, bevor sie starb, an einer Lungenentzündung, wie es hieß. Gehirn, Geschlecht und Skelett kamen konserviert ins naturhistorische Museum.

Am Ursprung der Bilder, die die "Erste Welt" sich von sich selbst und den anderen macht, liegt eine Reihe erstaunlicher Anekdoten. Die kultur- und wissenschaftshistorische Tragweite, die das Vorführen exotischer Menschen bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hatte, ist wenig bekannt.

Wie der kommerzielle Schaustellerbetrieb und die Humanwissenschaften Hand in Hand gingen, um aus dem Menschen ein Objekt zu machen, führt eine Ausstellung im Pariser Musée du quai Branly anschaulich vor. "L'invention du sauvage" heißt sie treffend, "Die Erfindung des Wilden". In schummrigen, verwinkelten Gängen führt sie von frühen Ölbildern wie William Parrys Porträt des Tahitianers Omai über Schädelmessinstrumente bis zu Filmaufnahmen von Jahrmärkten und Wildwest-Shows und lässt dabei tief blicken in die historischen Fundamente moderner Gesellschaften.

Die Bestimmung eigener Identität durch die Abgrenzung zu anderen ist eine anthropologische Konstante. Schon Ägypter stellten kleinwüchsige Nubier öffentlich aus. Römische Feldherren führten besiegte Barbaren durch die Straßen Roms. Und paradierten 1550 in Rouen 50 kurz zuvor eingeschiffte Tupi-Indianer für König Henri II., so wird auf den Plakaten der sich ausbildenden Massenkultur im neunzehnten Jahrhundert der Konsument zum Souverän, dem die halb nackten Amazonenhorden aufmarschieren: "Castan's Panoptikum. Friedrichstr. 165 Ecke Behrenstr. Original-Amazonen. 50 Pfg."

Auf die Idee muss man erstmal kommen: Fremde einschiffen, nur um sie anzugucken. Doch in der Pionierstimmung von Kolonialismus und Naturwissenschaften erschien das kaum fragwürdig. Es war die Zeit des Bevölkerungsmanagements, Schule, Krankenhaus, Militär und Psychiatrie hatten sich durchgesetzt und förderten Vorstellungen von "Normalität". Neue Erfindungen wie die Fotografie trieben die Aufteilung der Welt in Beobachter und Beobachtete an.

"Sehen ist Wissen": Das Motto der Weltausstellung 1893 in Chicago steht für das ganze neunzehnte Jahrhundert, das wie nie zuvor das Sehen in den Mittelpunkt rückte. In Jahrmärkten und Zirkussen waren Exoten schon lange Attraktionen, doch mit der Erschließung der Kolonien und der Sortierung der Welt als Warenschau in Weltausstellungen wurde das Vorzeigen Fremder zur systematischen Großunternehmung. Der Hamburger Zoounternehmer Carl Hagenbeck oder der Pariser Ferdinand Gravier exportierten ihre Truppen mit immer aufwendigeren Inszenierungen nach ganz Europa und in die USA.

62.000 Schaulustige kamen 1878 an einem Sonntag in den Berliner Zoo, um Hagenbecks Nubier zu sehen. Das entspricht der öffentlichen Aufregung, wenn heute Madonna in die Stadt kommt. Und das waren damals die eingeschifften Fremden: Stars, Thema der Klatschspalten, Gegenstand von Abscheu und Begehren. Die Schauen und die ethnografischen Fotografien, die auf ihnen entstanden, erlaubten einen Genuss von Körperlichkeit, wie er sonst untersagt war. Jugendliche mussten abgehalten werden, über die Zäune zu klettern, und nachdem eine Londoner Dame den ausgestellten "Prinzen" Peter Lobengula aus "Savage South Africa" ehelichen wollte, wurde Frauen der Einlass in die Ausstellung verwehrt. Darin spiegelten sich zum einen Sorgen um moralische und rassische Reinheit, zum anderen beruhte das Geschäftsmodell ja auf der "vierten Wand". Es sei "stets von Vortheil für den ungestörten Verlauf solcher Vorführungen gewesen, wenn das Publikum sich mit diesen Vertretern fremder Völker nicht unterhalten konnte", zitiert die Soziologin Stefanie Wolter in ihrem Buch "Die Vermarktung des Fremden" Carl Hagenbecks Biografen Heinrich Leutemann.

Was die Betrachter in den Ausstellungen erblickten, war ihr vermeintlicher zivilisatorischer Vorsprung. Die Schauen legitimierten die Kolonialunternehmungen: Diese Wilden hatten Zivilisierung, wie man sehen konnte, dringend nötig. Und sie machten die noch junge Ethnologie populär. Zu jeder neuen Ausstellung kamen Vertreter anthropologischer Gesellschaften, um zu vermessen, zu fotografieren und die begehrten Zertifikate auf "Echtheit" der Darsteller auszustellen, die es den Impresarios erlaubten, den Eintrittspreis zu erhöhen. Das Beispiel der Menschenzoos zeigt, dass wissenschaftliche Konzepte nicht nur in klugen Köpfen geprägt werden, sondern auch in Abstimmungen mit den Füßen. Hier war es der Rassismus, der ja wie viele wissenschaftliche Neuerungen ein billiger Sophistentrick ist: Erfinde einfach neue Fragen, und alle werden zu sehr mit möglichen Antworten beschäftigt sein, um den Fehler zu finden.

Zwischen 1870 und 1930 waren Völkerschauen ein Massenmedium. Bevor der Film die Befriedigung exotistischer Bedürfnisse übernahm, machten sich hier Bürger aller Schichten ein Bild von fernen Gegenden, wobei dieses Bild künstlich und oft unter Zwang inszeniert war. Hagenbecks Amazonen kamen in Wahrheit aus Togo und wurden in Hamburg eigens trainiert. Ein und dieselbe Truppe wurde hier als Senegalesen, dort als Dahomeys angekündigt. Zu den harmloseren Betrugsbeispielen gehört die bayerische Familie, die schwarz angemalt im Münchner Zoo posierte. Der wachsende Wettbewerb forderte immer aufwendigere Spektakel: In Hagenbecks Ceylon-Schau traten 1908 ganze 400 Menschen auf, und die Eingeborenendörfer, die vor allem in Frankreich populär waren und auf Kolonialausstellungen das Ausmaß von Städten annahmen, zielten darauf ab, dass sich die Besucher tatsächlich wie auf Reisen fühlten: Sie kauften in Werkstätten Andenken, gingen fremdländisch essen und nahmen Postkarten mit nach Hause - lange vor dem Massentourismus setzte sich diese Form des Souvenirs mit den Völkerschauen durch. Einige sind in Paris ausgebreitet, neben Hagenbecks Lohnbuch.

In dem Maß, in dem Publikum und Darsteller sich näherkamen, verlor das Genre allerdings an Attraktivität: Die Konstruktion von Fremdheit zog nicht mehr. Zunehmend vertraten die Schausteller ihre Interessen, wie im Fall der Lohnforderungen einer Bischari-Truppe in Wien, über die es in einem zeitgenössischen Bericht heißt: "Der Streik dieser Wilden bestand in köstlicher Logik darin, dass sie zahm wurden. Sie haben es auch richtig durchgesetzt, und erst nachdem sie vollkommen befriedigt waren, wurden sie wieder wild."

Am Ende kam Kritik an den Schauen auch aus der Koloniallobby: Nicht nur, dass man Arbeitskämpfe in den Kolonien befürchtete, wenn die heimkehrenden Schausteller vom europäischen Lohnniveau berichteten; man sorgte sich auch um die Autorität der Kolonialherren, würde sich herumsprechen, wie sich das europäische Publikum benahm.

Denn natürlich war mitunter schwer zu entscheiden, auf welcher Seite des Zauns die Wilden standen. Schon früh gab es Karikaturen wie "La revanche" von J. J. Grandville 1830, auf der Adelige vor nichteuropäischem Publikum auf der Bühne posieren.

In den Dreißigerjahren nahm die Kritik an den Ausstellungen zu und das Interesse des Publikums ab. Die Inszenierung des Fremden übernahm der Abenteuerfilm, und die Ethnologen forschten fortan vor Ort. Die letzte Völkerausstellung fand 1958 in Belgien statt.

1994 regten sich dann in Nantes Proteste, als herauskam, dass Tänzer von der Elfenbeinküste, die in einem Wildpark für ein PR-Dorf einer Keksfirma tanzten, nach Elfenbeinküsten-Niveau bezahlt wurden. Und 2005 sorgte das "Afrikanische Dorf" im Augsburger Zoo mit Essens- und Handwerksbuden für Entrüstung. Das Ungeheure an solchen Déja-vus liegt wohl vor allem darin, dass sie daran erinnern, dass weite Teils Afrikas noch immer als Selbstbedienungsladen für den Westen und mittlerweile auch China dienen. Christoph Schlingensief hat daran erinnert, dass 95 Prozent der Bilder aus Afrika von westlichen Fotografen gemacht werden.

Erst vor zehn Jahren hat die Forschung zu Völkerausstellungen an Fahrt gewonnen - gerade als die Zurschaustellung "authentischen Lebens" mit dem Reality TV wieder populär geworden war. Einen vorläufigen Höhepunkt bildet die Pariser Ausstellung, vor allem aber ihr umfassender Katalog. Unter der Schirmherrschaft des Fußballers und Anti-Rassismus-Aktivisten Lilian Thuram wurde sie zum Publikumsrenner. Sie schärft den Blick auch für die Institution, in der sie stattfindet: Denn auch wenn es nur Objekte zeigt, widmet sich das 2006 eröffnete Quai Branly in seinen höhlenförmigen Gängen weniger anthropologischer Bildung als dem Bestaunen des "Fremden". Wurden im neunzehnten Jahrhundert immerhin auch europäische Minderheiten wie Iren und Bretonen ausgestellt, so gibt es hier zwar aktuelle Karnevalskostüme aus Bolivien, aber zum Beispiel keins von der Schwäbischen Alb. Solange ein ethnologisches Museum nicht auch die europäischen Kulturen einschließt, spielt es der Teilung der Welt in Beobachter und Beobachtete zu und bekräftigt, dass man in Europa noch immer an der Deutungshoheit festhalten möchte.

Das könnte in dem Maß schwieriger werden, in dem die Produktionsmittel zur Aufmerksamkeitserzeugung dank Internet und Fotohandys immer mehr gestreut werden. Und so regt sich beim Verlassen des Museums das Bild der Ersten Welt als einer Scholle, auf der Wissenschaftler und Journalisten, sich an ihre Schädelmessinstrumente und Kameras klammernd, langsam davontreiben.

Vielleicht wird es ja in dreißig Jahren Ausstellungen über die Castinggesellschaft geben. Oder über Massentierhaltung. Oder über die "Erfindung des Immigranten".

adkv - art cologne preis
für kunstkritik 2012

Will-Grohmann-Preis
der Akademie der Künste 2018