Wer sich auf das Leben einlässt, wird verletzt

Grau ist eine Farbe und Michael Schmidt der große Einzelgänger der deutschen Fotografie. Jetzt, mit 65, erlebt er seinen späten Durchbruch. Ein Besuch vor seiner Retrospektive im Münchner Haus der Kunst

Welt am Sonntag, 23. Mai 2010

Die Wegbeschreibung klingt wie die Reise in ein anderes Land: Zug bis Wittenberge. Zwanzig Minuten mit dem Taxi zum Fähranleger. Übersetzen nach Schnackenburg. Dort noch zehn Minuten zu Fuß am Deich entlang bis zum Haus des Künstlers. Es ist stürmisch, in den Elbauen steht das Hochwasser, auf dem Deich zerrt der Wind, es riecht nach Meer. Michael Schmidt, der in Schwarz-Weiß-Fotos die Härte der Mauerstadt Berlin einfing, hat seinen Landsitz zwei Stunden von der Hauptstadt entfernt am Rand des Wendlands in norddeutscher Idylle.

Ein Hund purzelt zwischen den Füßen des Künstlers aus der Tür. "Das ist Freitag." Und schon ist klar, wer Robinson ist. Schmidt lächelt breit, ein kleiner Mann mit beherztem Händedruck. Scharfe blaue Augen unter einer furchigen, ledrigen Stirn - als trage sie die Spuren von jahrzehntelangem Fokussieren und Abdrücken.

Er brauche den Abstand zu Berlin, sagt Schmidt. "Dort ist Verwaltung. Hier kann ich meine Kunst machen." In deutlichem Berlinerisch spricht er über die Fotografie, über die Ausstellung im Münchner Haus der Kunst, über sein Plakatprojekt für die Berlin Biennale. Er blickt sein Gegenüber herausfordernd an, unterstreicht die Sätze mit klaren Handbewegungen, krault beim Nachdenken den Dreitagebart. Zwischendurch steht er auf, um eine Zigarette vom Schreibtisch zu holen, dann setzt er sich wieder, graue Hose und schwarzer Strickpulli auf schwarzem Ledersofa. Die gleichen Farben wie in seinen Bildern.

Schmidts Fotografien sind nicht schwarz-weiß, darauf muss er immer wieder hinweisen. Sie sind grau. "Grau ist für mich eine Farbe." Mit ihr hat der Autodidakt einen einzigartigen Zugang zur Wirklichkeit entwickelt, in einer formalen Konsequenz, die ihn zum Vorbild für mehrere Fotografengenerationen machte. Über Jahrzehnte hatte die Sachlichkeit Hilla und Bernd Bechers die deutsche Fotografie geprägt. Heute berufen sich selbst Becher-Schüler wie Andreas Gursky eher auf den Einzelgänger Schmidt. Dass er 65 werden musste, um eine Ausstellung von der Größe zu erleben, wie sie mit 391 Bildern im Haus der Kunst gezeigt wird, ist zum einen eine Ungerechtigkeit. Zum anderen ein Privileg: Sein 45-jähriges Schaffen bildet ein derart konsistentes Werk, wie es keiner der jungen Künstler schaffen könnte, die heute direkt aus den Akademien auf den Markt treten.

Es gibt Bilder von Schmidt, die sich unlöschbar einbrennen. Die Serie "Berlin nach 1945": das Parkdeck einer Sozialbausiedlung, leer gefegt bis auf einen eingemotteten Wagen am anderen Ende. "Berlin-Kreuzberg": die Frau am Sandkasten, die ihr Kind umklammert, die Beine seltsam verdreht, ängstlich zur Seite blickend. Das Mädchen, dem das Blut aus der Nase läuft, auf einem Tisch liegend wie aufgebahrt, die Augen verborgen hinter dicken Brillengläsern. "Eins meiner ersten Bilder." Schmidt war zwanzig, hatte sich Geld für eine Kamera geliehen und versuchte sich als Reportagefotograf in einer Schule. Damals gelang ihm sein vielleicht brutalstes Bild überhaupt. Das sei kein brutales Bild, sagt Schmidt, die Situation sei brutal gewesen. "Die Leute haben lange übersehen, dass meine Bilder eine Hoffnung bergen."

Von Anfang an war Schmidts Leben von der Erfahrung der Grenze geprägt. Als er drei war, zogen die Eltern mit ihrer Lampenschirmfabrikation nach Ost-Berlin, später flohen sie zurück. Der ältere Bruder saß neun Jahre in Bautzen. Michael musste wegen der Umzüge fast ein Dutzend Mal die Schule wechseln. Als er sich in den Siebzigern mit seiner Frau Karin ein Haus im Grünen suchte, landete er wieder an der Grenze, am östlichsten Punkt Westdeutschlands, direkt am Deich, von dessen Spitze man die Wachtürme am anderen Ufer sieht.

Vor zehn Jahren baute Schmidt die alte Scheune, die zur Straße liegt, zum Atelier aus. Das Haus selbst ist bunt von Blumen. Hier führt Karin Regie. Die beiden führen ein beständiges Leben, fahren kaum in den Urlaub, räumen nie um. "Ich räume in meiner Arbeit um." Für jede Ausstellung arrangiert er seine Serien neu. Was an Geld reinkommt, geht in Essen und Trinken. "Wir sind anspruchslos."

Das war Schmidt immer. Um die Familie zu unterstützen, sammelte er als Kind auf dem Tennisplatz Bälle. "Ich war niemand, der gerne spielt. Ich wollte Ergebnisse sehen. Ob es der Sand war, den ich formte, oder Unkraut, das ich jätete: Es musste immer einen Grund geben, der außerhalb von mir lag." So redet ein geborener Problemlöser. Einer, der zielorientiert in einem gegebenen Handlungsrahmen agiert. "Man kann sich nur im Gegenüber verwirklichen."

Das Gegenüber: Die Herausforderung, der Widerstand. Die Grenze. Wenn Schmidt fotografiert, ist das physischer Kraftaustausch. Fast wie Boxen: "Man ist außerhalb von Raum und Zeit. Man muss vorher wissen, was man will, und man muss es danach wissen. Dazwischen muss man loslassen."

Boxen: eine Metapher für das Leben. Wer sich einlässt, wird verletzt. "Kein Boxer ist so gut, dass er in fünfzehn Runden nicht mehrmals hart getroffen wird", zitiert Schmidt Muhammad Ali. Lange hatte er nach einem Weg gesucht, die Wirklichkeit objektiv darzustellen. Seine frühen Serien waren von den Ausstellungen im Zentrum für Fotografie an der Kreuzberger Volkshochschule geprägt, das Schmidt gegründet hatte, amerikanische sozialdokumentarische Fotografie, Paul Strand, Walker Evans. Ende der Siebziger kam der Punkt, an dem er sich fragte: "Wo bleibst du selbst noch?"

Die Antwort gab die Serie "Waffenruhe": Menschen und Gegenstände sind nah vor die Kamera gerückt und versperren die Sicht auf die Umgebung. Der Betrachter ist von allen Seiten umstellt. Jedes Bild ein Faustschlag. Schmidt hatte seine singuläre Position gefunden, 1988 widmete ihm das MoMA eine Einzelausstellung.

"Ein gutes Bild muss eine Erschütterung in sich bergen", sagt Schmidt. Seine Fotografien bilden nicht einfach Gegenstände ab. Sie geben Situationen wieder, in denen die einzige feste Koordinate das Gegenüber ist. Seine Bilder vor 1989 vermitteln das Raumgefühl Berlins, die Gegenwart der Mauer, die Einschränkung von Sichtfeld und Beweglichkeit. Dazu die Brachflächen, Übergangs- und Zwischenstadien. Nicht weil Schmidt es so wollte. Sondern weil er seine subjektive Erfahrung einbringt, in der sich die Zeitumstände spiegeln. Und weil er falsche Identifikation meidet. Er kennt da keinen Unterschied zwischen Mensch und Ding.

Kürzlich erschien auf einer Seite der "FAZ" ein monumentaler Frauennacken. Ohne Kommentar, nur ein klein gedruckter Verweis auf die Berlin Biennale. Kuratorin Kathrin Rhomberg hat die bislang selten gezeigte "Frauen"-Serie ausgewählt, um Plakatwände und Medien zu bespielen. Ein Einbruch in Flächen des gelenkten Blicks.

Die Fotografien von 25- bis 30-Jährigen entstanden 1999. Mit sachlichem Blick tastet er die Körperformen in all ihren skulpturalen Aspekten ab. "Ich mache keine Porträts", sagt Schmidt. "Ich mache Menschenbilder."

Was hebt Schmidts Bilder so aus der Zeit? Er würde sagen, er habe über die Gegenwart etwas eingefangen, das bleibende Gültigkeit hat. Man könnte aber auch sagen: Die Bilder bleiben gültig, weil Schmidt das Entscheidende weglässt. Erst in der Serie verknüpfen sich die unheroischen Motive zu Zusammenhängen, die fortwährend gebrochen werden. Schmidts liebstes Medium ist das Buch. Sein wichtigstes Werkzeug: die Lücke.

Zur Ausstellung im Haus der Kunst erscheint erstmals die Serie "89/90" gedruckt. Leere Stadtlandschaften. Am Ende, auf Seite 89: ein knorriger Baum vor einem Holzzaun, hinter dem ein Müllberg aufragt. Seite 90: das gleiche Bild noch mal. Seite 91: noch mal. Nun war sie weg, die Grenze. Doch während die Medien feiernde Massen fotografierten, nahm Schmidt einen Müllberg hinter einem Zaun auf. Wo erlebte er den 9. November? "In München, vor dem Fernseher." Was war das für ein Gefühl? "Da war eigentlich gar kein Gefühl."

Ein Jahr später begann Schmidt seine bis heute bekannteste Serie "EIN-HEIT". Eine Tiefenbohrung im Bildgedächtnis beider deutscher Staaten, die auf die Unabschließbarkeit von Geschichte pocht. In der Kombination aus aktuellen Aufnahmen mit abfotografiertem Archivmaterial führte Schmidt die Tradition der seriellen Fotografie an einen Endpunkt, dorthin, wo sich Zusammenhänge lösen, die Fotografie ihre Abbildfunktion unterläuft.

Seit vier Jahren fotografiert er Nahrung: Lachsfarmen in Norwegen, Schlachtbetriebe in Österreich, Krabbenschälbetriebe. Ein Essay über Ernährung. Also doch noch Reportagefotografie? Ja und nein. Gleich das erste Foto, das Schmidt auf seinem Laptop zeigt, die Nahansicht eines schlaffen, tätowierten Schweinekörpers, hat etwas Universelles, erinnert an Darstellungen toter Tiere im Barock.

Die jüngsten Bilder, die in München zu sehen sind, entstanden nebenbei, als Schmidt gerade Apfelsinenplantagen in Italien fotografierte: das offene Meer, die Lücke an sich. Oder, wie Schmidt sagt: "Man ist am Arsch der Welt und am Anfang." Jahrzehnte lief Schmidt gegen Grenzen an. Und jetzt: nichts als der Horizont. In Caspar David Friedrichs Meerbildern gibt es immer Elemente, die jenes erhabene Gefühl von Tiefe schaffen. Vor Schmidts Meerbildern steht der Betrachter alleine, nicht vor einer von höheren Mächten durchdrungenen Natur, sondern auf sich selbst zurückgeworfen.

Immer geht Schmidt einen Weg bis zum Ende. Dann beginnt er einen neuen. Wenn er etwas hasst, sagt er, dann sei das ein Alterswerk. Es sei wichtig, nicht die Wahrheit zu finden. "Leute, die die Wahrheit haben, sind mir suspekt."

Am Ende zeigt Michael Schmidt noch ein Farbfoto. Auf seinem Handydisplay. Freitag, der Hund. Man sieht nur die Schnauze. Hinter der Spitze des Deichs.

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für kunstkritik 2012

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